Monika Helfer zählt zu den leisen Autorinnen Österreichs. Die kapriziöse Frau mit den dunklen Haaren und der grazilen Gestalt zeichnet in ihren Romanen mit leichter Hand komplexe Charaktere und eindrückliche Miniaturen. Der 72jährigen mit der wundervoll tiefen, verführerisch rauchigen Stimme zwischen Wärme und Brüchigkeit, liegt Skepsis näher als Besserwisserei. Ihr neuer Roman "Die Bagage", über Familie, Herkunft, Krieg und Frausein, in einem abgelegenen Bergdorf, besticht durch atmosphärische Dichte.

Weit entfernt von kitschiger Alpenidylle und verbrämter Heimatliteratur erzählt sie von der Kindheit ihrer Mutter und dem entbehrungsreichen Leben ihrer Großeltern während des ersten Weltkriegs.

Die "Wiener Zeitung" sprach mit der preisgekrönten Vorarlberger Schriftstellerin im kunstvollen Arrangement aus echten und künstlichen Blumen, Puppenköpfen aus Porzellan, hölzernen Tieren und geheimnisvollen Figuren im Wohnzimmer ihres Hauses, einem kleinen Gesamtkunstwerk, in Hohenems.

"Wiener Zeitung":Frau Helfer Sie gelten als die Spezialistin für den Mikrokosmos Familie. In Ihrem jüngsten Werk mit seiner bezwingenden Prosa erzählen Sie mit großer Wucht und ohne Sentimentalität die Geschichte Ihrer eigenen Herkunft. Was hat Sie motiviert einen autobiographischen Roman zu verfassen?

Monika Helfer: Die "Bagage" ist kein rein autobiographischer Roman. Immer wieder hatte ich versucht, über meine Familie zu schreiben, aber jedes Mal war mir das zu privat, so musste ich eine Zwischenform finden. Über meine Familie gäbe es viel zu erzählen. Jeder Onkel, jede Tante, jeder Cousin, jede Cousine könnte auf einen eigenen Roman pochen. Es sind große Geschichten, sehr wilde Geschichten, grausame Geschichten, tief traurige Geschichten. Sie waren mir lange Zeit zu groß, ich habe mich auch für sie geschämt. Man liest in einem Roman gern von wilden Gesellen, aber wenn sie dann durch die eigene Familiengeschichte reiten, dann hat man das nicht so gern, jedenfalls nicht als Kind. Irgendwann hat sich in meinem Kopf meine Großmutter gemeldet, so als wollte sie zu mir sagen: Schreib über mich, erfinde mich neu. Fang bei mir an.

Wie leicht fiel es Ihnen bewusst die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit aufzuheben?

Eine Wahrheit, die über zehn Zeilen hinausgeht, ist ein Roman. Spätestens dann übernimmt die Sprache selbst das Ruder, und die fragt nicht nach Wahrheit oder Fiktion. Fiktion und Fakten vermischen sich, so dass ich manchmal selber nicht mehr weiß, was Wahrheit ist. Beim Schreiben behaupten die Figuren, die literarischen Figuren, ihre eigene Wahrheit. Dazu haben sie ein Recht. Deutlich wird es in einem Gespräch, in dem meine Tante Kathe eine Vermutung wiedergibt, und so tut, als wäre es genau so geschehen. Ich weiß dann nicht, bin ich es, die da vermutet, und Tante Kathe hat es behauptet, oder behaupte ich es, und sie hat es nur vermutet. Wahrheiten und Lügen sind Vögel, die fortfliegen, ihre Flügel sind Lesen und Schreiben. Ich meine damit die Möglichkeit einer Wahrheit, und dass es am Ende gleichgültig ist, ob diese oder jene Wahrheit möglich war, oder ob es sich bereits um rein Erfundenes handelt.

Ihre gehaltvolle Geschichte über Familienstrukturen und Beziehungen ist die Geschichte der Kindheit Ihrer Mutter und zugleich die eines Kindes, das vom Vater wie Luft behandelt wurde. Wie prägend glauben Sie war das für Ihre eigene Entwicklung?

So genau kann ich das nicht beantworten, aber es kann sein, dass ich durch meine Familiengeschichte empfindlich auf Ungerechtigkeiten reagiere. Schreiben ist für mich keine Therapie. Das ist es nicht. Beim Schreiben denke ich ans Schreiben und wie ich am besten in Worte fasse, was ich sagen will, so dass es stimmig wirkt.

Ihre Mutter ist sehr früh gestorben. War Schreiben für Sie damals auch Überlebensstrategie?

Ein Trost war es. Ich schrieb auf kleine Zettel, was ich mich nicht sagen traute, oder auch niemand sagen wollte. Der Trost bestand auch darin, dass mich das Schreiben ablenkte, das heißt, es lenkte mich auf sich selbst, auf die Sprache. Ich bin nicht verwöhnt worden. Ich bin zäh, das ist fürs Schreiben kein Schaden. Ich träumte und sah meinen Namen schon früh auf den Buchrücken stehen, da war ich noch Schülerin.

Zu jeder Familie gehören Geheimnisse. Familien hüten ein Geheimnis, manchmal über Generationen, hinweg. Hatten Sie das Gefühl mit einem Geheimnis aufzuwachsen?

Ich habe mir als Kind manchmal gedacht, wir sind schon komische Leute, und ich hätte es gern normal gehabt. Gemütlich und normal.

Solche Familiengeheimnisse üben oft eine magische Anziehungskraft aus. War das Schreiben an diesem Roman für Sie ein Aufdecken von Zusammenhängen, wie etwa die anrührende Geschichte, dass Ihre Großmutter den Mann, den sie liebte in die Hand biss und Sie bei Ihrer ersten Liebe genauso reagierten?

Das Beißen ist eine sehr intime Angelegenheit. Es soll weh tun und den unausgesprochenen Schmerz überdecken. Schmerz und Sexualität liegen nicht selten eng beieinander.

Immer wieder drängt sich die Gegenwart in den Erzählfluss Ihres Romans. Kamen diese Sequenzen spontan beim Schreiben oder wählten Sie diese raffinierte Dramaturgie des Vor- und Zurückspringens aus?

Wenn man eine Familiengeschichte erzählt, ganz gleich, ob eine fiktive oder eine sogenannte echte, dann sind immer alle Mitglieder der Familie, erstens Grades, zweites Grades, dritten Grades, anwesend. Was einer vor hundert Jahren getan hat, bekommt vielleicht erst heute seine Bedeutung. Also, wenn ich von ihm erzähle, muss ich auch von heute erzählen. Ich wusste, ich konnte diese Geschichte nicht geradlinig erzählen, also: Hier beginnt sie, und nun folgt die Chronologie. Ich dachte, wenn ich von den Menschen zweier weiterer Generationen erzähle, bekommt die Geschichte Gewicht. Aber eben nicht dadurch, dass ich in der Chronologie erzähle, sondern so, dass mir selbst klar wird, wie eine Person eine andere in sich trägt.

"Die Erinnerung muss als heilloses Durcheinander gesehen werden. Erst, wenn man ein Drama daraus macht herrscht Ordnung", schreiben Sie. Wie wichtig ist Ihnen diese Ordnung und lässt sie sich überhaupt herstellen?

Die Ordnung ergibt sich, wenn der Text harmonisch verläuft. Die Sprache regiert.

Das Titelbild Ihres Romans zeigt das Ölbild "Die kleine Badende" von Gerhard Richter. War es Ihre Wahl und was bedeutet es Ihnen?

Dieses Bild von Richter spricht mich sehr an, und ich sehe darin meine Großmutter. Ich habe extra für dieses Bild eine kurze Passage in den Roman geschrieben.

In fast allen Ihren Romanen sind komplexe Familienbeziehungen zentrales Thema. Oft erzählen Sie dabei aus der Perspektive der Kinder, so etwa in "Die wilden Kinder", "Oskar und Lilli" oder "Schau mich an, wenn ich mit dir rede". Diesmal wechseln Sie häufiger die Perspektive. War das geplant?

Was ich schreibe, ergibt sich beim Schreiben selbst. Ich sehe eine reale Szene, zum Beispiel in der U-Bahn wie in meinem Roman "Schau mich an, wenn ich mit dir rede" und daraus entwickelt sich eine Geschichte, weil ich das Kind nicht mehr aus meinem Kopf bekomme.

Neben Kindern beschäftigen Sie sich in Ihren Romanen häufig mit Randfiguren und Außenseitern. Sie begegnen Ihnen mit großer Empathie und ohne Verurteilung. Würden Sie sagen, dass Ihre eigene Biographie Sie dazu befähigt hat?

Kann sein, doch das kann ich nicht so genau einschätzen. Aber ich gebe Menschen, die es schwer haben, einfach gern eine Stimme. Ich finde, sie müssen gehört werden.

Bereits in "Bevor ich schlafen kann" fand Ihre Tochter Paula Eingang in ihre Literatur, als Figur, die der orientierungslosen Protagonistin den rechten Weg weist. Hilft es die Trauer über den tragischen Tod Ihrer 21-Jährigen Tochter, die selbst literarisches Talent besaß, besser zu ertragen?

Das mit Paula ist so eine Sache. Ich beginne einen Text, und Paula schaut mir über die Schulter, und dann muss ich sie vorkommen lassen, denn, wenn ich über sie schreibe, ist sie bei mir.

Von Ihrer Tochter erschien postum der Erzählband "Maramba". Sehen Sie Ähnlichkeiten zwischen Ihrem und Paulas Schreibstil?

Wir beide haben einen ähnlichen Schreibstil. Sie hatte auch meine Beobachtungswut. Sie konnte Leute anstarren, so lange bis sie in ihrem Kopf gespeichert waren. Sie war jemand, der sich immer dafür interessiert hat, wie es den Menschen geht. Sie war unglaublich empathisch. Wenn sie jemanden in der U-Bahn sah, dem es offensichtlich miserabel ging, hat sie das kaum ausgehalten. Das kann ich total gut verstehen, weil es mir auch so geht.

"Beinahe alle, über die ich schreibe, liegen unter der Erde", heißt es am Ende Ihres Buches. Wie gehen Sie mit dem Rätsel von Leben und Tod um?

Wenn ich sage, dass ich jeden Tag an den Tod denke, dann stimmt das. Ich muss mich schließlich mit ihm anfreunden. Ich fürchte mich nicht davor.

Wie sieht Ihr Schreiballtag aus?

Ich versuche mich zu disziplinieren, was nicht immer gelingt. Aber jeden Tag schreibe ich. Dabei machen mich meine Einfälle, besser gesagt, das Gefühl, als stünde jemand hinter mir und sagt mir ein, am Glücklichsten. Ich muss dann quasi nur schreiben, was ich höre.

Hatten Sie denn jemals eine Schreibblockade?

Als Paula gestorben war, konnte ich lange nicht schreiben. Mir schien es damals ohne Sinn. Es ist ein extremer Schock für eine Mutter, wenn eines der Kinder vor ihr stirbt. Da stimmt nichts mehr.

Sie sind zwischen den Bücherberge Ihres Vaters, einem Beamten in Vorarlberg aufgewachsen, der als Verwalter in einem Erholungsheim für Kriegsversehrte arbeitete und süchtig nach Lesestoff war. Was war Ihre erste Leseerfahrung?

Ich habe alles gelesen, was mir unter die Hände kam. Es gab im Erholungsheim einen Lesesaal mit vielen Bücher, da bedienten wir uns, meine Schwester und ich, wir lasen eine Seite, dann holten wir das nächste Buch, bis eines uns gefiel. Später dann gingen wir in die Gewerkschaftsbibliothek und liehen uns jede Woche neue Bücher aus.

Stimmt es, dass Ihr spezieller Lieblingsautor Anton Tschechow ist und warum?

Ja, Tschechow liebe ich, weil er die Menschen liebt und sich ihrer annimmt, wie ich es auch will. Von ihm habe ich viel gelernt. Er war Arzt und allein aufgrund seines Berufs hatte er mit bedürftigen Menschen zu tun. Er kommt aus armen Verhältnissen und hat anfänglich unter schwierigsten Bedingungen geschrieben. Später, als er bereits seine Theaterstücke verfasste, hat er immer noch Leute behandelt, die sehr krank waren und kein Geld hatten, um zu bezahlen. Es gibt bei Tschechow eine Textstelle, wo er davon erzählt, dass er über 800 verschiedene Tulpenzwiebeln bestellt hat. Seine Idee war, dass die Leute, die zu ihm in die Behandlung kommen, von einem Meer an Tulpen gesäumt werden. Ich mag die Natur auch sehr gerne und kann diesen Überschwang gut nachvollziehen, also dass man sich plötzlich denkt, man möchte sehr viel Schönheit um sich, sozusagen als Kontrast zu allem anderen.

Anlässlich Ihres 70sten Geburtstags haben Sie einmal gesagt: "Ich will und muss schreiben, bis ich umfalle". Würden Sie das heute wieder sagen?

Na ja, noch stehe ich.

Es muss mit dem Beruf des Schriftstellers zu tun haben, dass wir ihn uns nur als Einzelgänger vorstellen können. Schriftstellerehepaare, die ein ganzes Leben miteinander verbringen, sind eher selten. Die Wiener denken an das Künstlerpaar Friederike Mayröcker und Ernst Jandl oder Günter Eich und Ilse Aichinger. Sie selbst sind seit 1981 mit Michael Köhlmeier verheiratet. Haben Sie Ihren Mann über die Literatur kennen gelernt?

Ja, über die Literatur, die wir beide lieben. Getroffen haben wir uns in den 1970er Jahren bei den "Randspielen", einem Gegenfestival zu den "Bregenzer Festspielen". Es war schicksalhaft. Wir reden auch hauptsächlich über Literatur. Ich bin froh, dass er mein Mann ist. Wir unterstützen uns gegenseitig. Ich würde jedem Künstler empfehlen, mit einem anderen Künstler liiert zu sein. Denn die Vorstellung, bei einem Problem gleich den richtigen Ansprechpartner zu haben, ist hilfreich und gut. Es ist jemandem, der kein Künstler ist, oft schwer zu erklären, was ein Künstler ist. Weil Künstlersein schon auch einen asozialen Kern hat.

Ist es Last oder Lust, wenn bei einem Paar beide Schriftsteller sind?

Definitiv Lust. Zwischen uns gibt es kein Konkurrenzdenken. Ich freue mich für meinen Mann, wenn er Erfolg hat und umgekehrt. Neid auf andere, etwa bei Preisverleihungen, ist mir fremd.

Sie dürften Österreichs produktivstes und prominentestes Schriftstellerehepaar sein. Gemeinsam mit Ihrem Mann haben Sie das Kinderbuch über ein jüdisches Mädchen "Rosie und der Urgroßvater" geschrieben. Wie darf man sich diese Zusammenarbeit vorstellen?

Ich schreibe das Skelett, Michael macht daraus einen Menschen, der funktioniert. Er geht mit großer Geste noch einmal über das Ganze und gibt so richtig Fleisch dazu. Er ist ja wirklich ein Meister der epischen Form.

Bei den meisten Schriftstellerpaaren hätte man sich eine Zusammenarbeit niemals vorstellen können. Bei Jandl und Mayröcker waren die literarischen Welten völlig gegensätzlich, bei Frisch und Bachmann herrschte Krieg. Wieso klappt es bei Ihnen? Ist Respekt das Zauberwort?

Liebe und Respekt und Großzügigkeit und gemeinsam Frühstücken.

Ihr Roman "Oskar und Lilli" wurde unter dem Titel "Ein bisschen bleiben wir noch" von dem iranischen Regisseur Arash T. Riahi verfilmt und hatte gerade seine Uraufführung beim Filmfestival Max Ophüls Preis. Wie kam es dazu?

Arash mochte mein Buch und deshalb wollte er daraus einen Film machen. Er ist ein sehr feiner Regisseur. Ich freue mich für ihn, dass er damit beim Max-Ophüls-Filmfest den Publikumspreis gewonnen hat. Der Film kommt noch in diesem Jahr in die Kinos.