Die Soziologie, so scheint es, hat Eingang gefunden in die Literatur. Fragen der sozialen Herkunft, der gesellschaftlichen Milieus und der unteren Gesellschaftsschichten liegen literarisch angeblich im Trend, und gern wird in diesem Zusammenhang auf französische Vorbilder wie Didier Eribon oder Édouard Louis verwiesen. Oft sind diese Romane autobiografisch grundiert (wie etwa jüngst in Christian Barons "Ein Mann seiner Klasse"), oft versuchen sie, die Härte der dargestellten Welten erzählerisch abzubilden (wie die Texte von Clemens Meyer), und manchmal wirken sie bloß wie die Kulisse für soziale Pappkameraden, die sich als Fiktion gewordene Klischees darin austoben (etwa in Juli Zehs "Unterleuten").

Doch bevor man eine neue Epoche der Unterschicht- und Randgruppenliteratur ausruft, sollte man daran denken, dass Literatur schon immer ästhetische Gesellschaftsbeschreibung und Sozialstudie war, dass die scharfsichtigsten und schonungslosesten Analysen der "Klassenverhältnisse" seit dem 19. Jahrhundert den Schriftstellern und nicht den Soziologen zu verdanken sind.

Vor allem Literatur

Insofern sollte man der Tatsache, dass Birgit Birnbacher studierte Soziologin ist, nicht allzu viel Bedeutung beimessen. Und dass ihre Geschichte vom straffällig gewordenen und nun um Resozialisierung bemühten Arthur Galleij auf Gesprächen mit einer "realen Vorlage" beruht, spricht für die Rechercheakribie der Autorin, sagt aber noch nichts über die Qualität der literarischen Umsetzung aus. Die aber ist letztlich das entscheidende Kriterium, und im Falle Birnbacher muss man sagen: Versuch insgesamt gelungen.

"Ich an meiner Seite" ist so etwas wie die Feuertaufe der 1985 im Pongau geborenen und heute in Salzburg lebenden Autorin. Ihr Debütroman "Wir ohne Wal" (2016) war eher eine Sammlung von Erzählungen. Und als sie 2019 den Ingeborg-Bachmann-Preis für die Erzählung "Der Schrank" bekam, machte das nur umso neugieriger auf das erste "richtige" Buch Birnbachers.

Kann ein Mensch ein anderer werden? Kann man seine Herkunft, seine Vergangenheit abstreifen und ein ganz neues Leben beginnen? Und wer bestimmt, ob jemand "dazugehören" darf oder ein "nützliches" Leben führt? Diese Fragen bestimmen Birnbachers Roman, und dass es nicht so leicht ist, genau zu sagen, wer oder was jemand ist, zeigt sich schon an der Erzählkonstruktion.

Die Lebensgeschichte des 22 Jahre alten Arthur, der wegen Internetbetrugs eine Haftstrafe verbüßt hat und nun entlassen wird, wird im Wechsel zwischen verschiedenen Zeit- und Erzählebenen erzählt: einer Gegenwarts-ebene der Resozialisierung im Rahmen eines therapeutischen Versuchsprogramms und mehreren Rückblenden auf zentrale Geschehnisse im Leben des Protagonisten. Dazu gehören eine schwierige Kindheit samt Trennung der Eltern, der Umzug der Familie nach Spanien, wo die Mutter ein Luxus-Palliativzentrum gründet, der Ertrinkenstod der Freundin, an dem sich Arthur irgendwie schuldig fühlt, die schwierige Rückkehr nach Wien, das Abgleiten in die Kriminalität, dazu heftige Erfahrungen im Gefängnis.

Arthur ist einer, der’s schon immer nicht ganz leicht hatte, und wie soll so einer ohne die passenden Papiere, ohne Geld, ohne feste Struktur wieder Fuß fassen? Die Therapie des unkonventionellen Therapeuten namens Börd folgt dem "Starring-Prinzip", das heißt: Der Klient soll sich in eine Optimalversion seiner selbst verwandeln. "Nicht, wer wir sein wollen, ist entscheidend, sondern wen wir darstellen können."

Mit Witz und Empathie

Es geht nicht um Authentizität, sondern um Rollenspiel, und ob Arthur in dieser Hinsicht am Ende erfolgreich therapiert ist, lässt der Roman auf feinsinnige Art in der Schwebe. Immerhin ist Arthur, wenn nicht seiner "Vorbildfigur", so doch sich selbst näher gekommen. "Schon bald habe ich das Gefühl gehabt, dass kein Glanzbild mich heil hier rausbringen wird, sondern einzig und allein ich an meiner Seite."

Birgit Birnbacher erzählt diese Außenseitergeschichte mit viel Witz und Empathie und zumeist mit den Augen ihrer Hauptfigur. Pathos und platte Gesellschaftskritik sind ihr zum Glück fremd, und schade ist eigentlich nur, dass der Roman im letzten Drittel etwas an Spannkraft verliert. Ansonsten aber macht "Ich an meiner Seite" viel Hoffnung auf mehr - und beweist ganz nebenher, dass auch Soziologinnen richtig gute Romane schreiben können.