Birgit Birnbacher hat für sich eine Methode gefunden, mit den Verwerfungen unserer Zeit umzugehen. Die studierte Soziologin und Sozialarbeiterin macht Literatur daraus. Die 35-Jährige aus dem Pongau kennt die Verhältnisse, über die sie schreibt, genau. Und fand eine Sprache dafür. Nicht zuletzt deshalb gewann die Salzburgerin im vergangenen Jahr den renommierten Ingeborg-Bachmann-Preis. Die Jury überzeugte die gesellschaftliche Relevanz ihrer feinen Milieustudie "Der Schrank", in dessen Zentrum die Prekarisierung der Lebensverhältnisse von Akademikern stand. Aber auch ihr neuer Roman "Ich an meiner Seite" über einen 22-jährigen Straftäter, der, aus dem Gefängnis entlassen, seinen Platz in der Gesellschaft sucht, gelingt ihr ein beeindruckendes Stück Literatur (siehe Besprechung). Die "Wiener Zeitung" sprach mit der Mutter eines kleinen Sohnes über ihre Bewährungshilfe auf literarisch und ihren Alltag in Corona-Zeiten.
"Wiener Zeitung": Frau Birnbacher, Aristoteles definiert den Menschen als "zoon politikon", als ein gemeinschaftsbildendes, gemeinschaftsuchendes Wesen, das ohne sein Gegenüber nicht existieren kann. In Zeiten von Corona scheint das außer Kraft gesetzt. Wie gehen Sie damit um?
Birgit Birnbacher: Es ist schon wichtig, dass wir nicht augenblicklich zu Tieren werden, wenn wir Angst um unsere Versorgung oder Familie haben. Die Moral hochzuhalten ist jetzt während dieser Ausgangsbeschränkung durch das Coronavirus eines der wenigen Dinge, die wir tun können, neben dem Befolgen der Anweisungen, die wir ja täglich in den Nachrichten hören.
Welche Auswirkungen hat die Corona-Krise auf Ihren Alltag?
Normalerweise wäre ich jetzt viel unterwegs gewesen. Ich bin seit dem Bachmannpreis nicht zur Ruhe gekommen und habe sehr viele Lesungen gehabt. Nun wäre ich direkt in die Lesereise zum Roman gestartet. Die Corona-Krise zwingt uns jetzt zur Ruhe. Ich will nicht hadern mit Dingen, die nicht zu ändern sind. Als aber nach der Leipziger Buchmesse auch die Lit.Cologne abgesagt worden ist, bin ich kurz einmal sehr traurig geworden. Ich bin den Veranstaltern sehr dankbar, dass alle verschieben wollen und uns Autoren und Autorinnen nicht auf den Totalausfällen sitzenlassen. Besonders Aktionen, die im Grunde auch einen solidarischen Gedanken haben, wie zum Beispiel die Corona-Tagebücher des Literaturhauses Graz, sind mehr als ein Veranstaltungsersatz. Sie ermöglichen auch Auseinandersetzung mit der Situation.
Kommt Ihr Sohn Xaver darin vor? Für Kinder ist es ja nur schwer verständlich, warum der Familienalltag plötzlich ganz anders aussieht.
Wir versuchen, das Beste daraus zu machen. Keine Freunde zu treffen ist schlimm, aber gleichzeitig können wir jetzt Dinge machen, für die wir sonst nicht die Zeit oder Muße hätten. Wir spielen viel Fußball und verfeinern die Technik, wir sitzen in der Sonne und dichten Blödsinn.
Ihren Figuren, oft Außenseiter, Randfiguren, begegnen Sie mit großer Empathie und ohne Verurteilung. Inwieweit hat Sie Ihre eigene Biografie zu diesem feinen Gespür für Underdogs befähigt?
Ich war immer auf der Seite der Außenseiter. Als Kind war ich eher bubenhaft, nicht so sehr ein Prinzesschen. Und ich hatte, vor allem im ganz jungen Alter Freunde, die sich alleine nicht so zu helfen wussten. Ich habe mich dann für sie starkgemacht, wenn es sein musste. Heute macht es mich zufrieden, dass ich beruflich diese Weltanschauung sozusagen ausleben darf. Diese Arbeit besteht nicht selten darin, den Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen oder etwas auszugleichen, wozu sie mitunter selbst nicht immer die Sprache, die Kenntnis oder die Kraft haben.
Stimmt es, dass der Roman "Ich an meiner Seite" auf einer wahren Lebensgeschichte beruht?
Ja, für die Figur von Arthur gibt es ein reales Vorbild. Ich hätte diese Geschichte sonst nicht entwickeln können. Mit Recherche allein wäre ich da bald an meine Grenzen gestoßen. Ich habe mich ja weniger für eine "klassische" kriminelle Karriere interessiert, obwohl mir solche Personen natürlich im Rahmen der Gespräche, die ich geführt habe, häufiger untergekommen sind. Das sind dann oft ganz schlimme Geschichten, aber eben auch sehr vorhersehbare und leider auch sehr traurige. Für einen Roman taugt so eine Abwärtsspirale nicht.
Gibt es auch eine Vorlage für den unkonventionellen Therapeuten Konstantin Vogl, genannt Börd, mit seinem besonderen Ansatz?
So einen wie Börd gibt es in der Sozialarbeit auf und ab, vielleicht nicht ganz so versoffen und mit etwas weniger Hang zum Explosiven und Mut zum Illegalen. Auch die ehemalige Schauspielerin Grazetta ist eine tragische Figur, aber gleichzeitig schillert ihre Existenz vor Stolz. Das sind natürlich überzeichnete Figuren. Die Gefahr, dass sie ins Klischeehafte kippen, ist groß, weil ja auch die Realität oft genug so klischeehaft ist. Trotzdem hat der Roman aus meiner Sicht diese Figuren gebraucht, weil er ansonsten zu schwer und auch zu eindimensional geraten wäre. Im Leben ist es doch auch manchmal so: Fast nichts ist ganz tragisch oder nur schlimm, es gibt doch immer auch diese Menschen oder Momente, die alles ins Komische kippen lassen oder die plötzlich Farbe zumischen, wo vorher alles sehr trist war.
Als Jugendliche haben Sie in Äthiopien und Indien Freiwilligenarbeit geleistet. Wie sehen Sie das heute und was war damals Ihre Motivation?
Diese Arbeitsaufenthalte darf man sich nicht heroisch vorstellen. Ich habe das schon kritisch gesehen. Aber ich wollte es einfach erleben und vor allem aus der Enge meiner Lehrzeit heraus fliehen. In Addis Abeba fand für mich mit 18 der Beginn meines Erwachsenenlebens statt. In der Arbeit im Waisenhaus bin ich größtenteils blöd danebengestanden und habe zugeschaut, während neben schrecklichen Dingen auch viele schöne passiert sind. Ich habe gelernt, wie man eine Bialetti-Kaffeekanne zusammenschraubt, wie man mit der Hand wäscht, ordentlich amtsenglisch spricht und Babys mit Stoffwindeln wickelt. Und dass ich insgesamt sehr wenig über das Leben weiß. Alles in allem war es ein guter Start. Aber ich bin zurückgekommen und hatte mehr als jemals zuvor das Gefühl, mit keinem einzigen Menschen reden zu können.
War Ihnen schon als junger Mensch klar, dass Sie Schriftstellerin werden wollen?
Ich hätte das gar nicht mehr gewusst, aber kürzlich haben meine Mutter und ich sehr über ein "Buch" gelacht, das sie am Dachboden gefunden hat. Es war ein fürchterlicher "Roman", so stand es vorne drauf, mit Schreibmaschine und nur in Großbuchstaben verfasst. Als Kind habe ich auf der Schreibmaschine immer in Großbuchstaben geschrieben. Auch das Anschreiben an den fiktiven Verleger! Ich wusste damals sicher nicht einmal, was ein Verlag ist.
Als Autorin leben Sie wie andere Künstler mit unsicheren Arbeitsbedingungen und schwankenden Einnahmen. Ist das etwas, das Sie belastet?
Ich habe das so gestaltet, dass es mich möglichst wenig belastet, weil meine Lebenslage nicht mehr die gleiche ist als vor ein paar Jahren. Während der letzten Jahre ist es so, dass ich mit der Schriftstellerei über die Runden kommen würde. Aber nicht selten wird es extrem knapp, wie zum Beispiel punktgenau zum Bachmannpreis. Da waren meine Reserven vollkommen aufgebraucht. So mag ich nicht leben, weil ich meiner Familie nicht zumuten will, nicht zu wissen, ob sich ein Urlaub ausgeht. Deshalb habe ich beides: Eine kleine berufliche Anstellung, die ich sehr gern ausübe und die mich absichert, und zu einem großen Teil die Arbeit als Schriftstellerin, die mich aber auf diese Weise nicht in existenzielle Nöte manövrieren kann. Diese Art von Sicherheit bedeutet für mich größtmögliche Autonomie, auch was die Annahme von Aufträgen beim Schreiben betrifft. Ich kann das machen, was mir wirklich liegt und muss nicht zu jedem Blödsinn etwas schreiben, nur weil ich gefragt werde.
Immer wieder beschreiben Autoren und Autorinnen das Wettlesen vor der Jury beim Bachmannpreis als große Herausforderung. Wie haben Sie das erlebt?
Es ist wirklich so schlimm, wie man sich das vorstellt. Ich war wahrscheinlich auch nicht die bravste Teilnehmerin. Im Fernsehen hat man dann gesehen, dass ich zum Beispiel zum Schminken nie da gewesen bin. Mir war das aber egal, ich dachte immer, darum geht es doch nicht. Aus jetziger Sicht denke ich, wäre ich mal lieber hingegangen . . .