Der Philosoph und Literaturwissenschafter Bernd Stiegler hat vor einigen Jahren ein wissenschaftliches Buch zum Phänomen der "Zimmerreisen" verfasst. Was damals für ihn selbst noch reine Fiktion, ein Wandeln durch die Literaturgeschichte war, ist nun Realität geworden: Bernd Stiegler postet - seinem Vorbild Xavier de Maistres gleich - seine Zimmerreisen in Bild und Text auf Facebook. Die "Wiener Zeitung" hat nachgefragt, was eine Zimmerreise in Corona-Zeiten ausmacht, und ob uns unsere Dinge in diesen Tagen "trösten" können.

"Wiener Zeitung": Sie befinden sich momentan auf Ihrer ersten eigene Zimmerreise. Inwiefern korrespondiert Ihre Erfahrung mit Ihrem kulturwissenschaftlichen Werk?
Bernd Stiegler: Als ich "Reisender Stillstand" (S. Fischer Wissenschaft) verfasste, habe ich eben keine Zimmerreise geschrieben, sondern die Geschichte dieser besonderen Reiseform, auf die ich, wie so oft, durch einen Zufall gestoßen bin. Ich las Xavier de Maistres "Reise um mein Zimmer" und Peter Handkes "Reise nach La Défense" nacheinander und fand, dass sich mit einem Mal eine besondere, erhellende Konstellation ergab, der ich nachspüren wollte. Dann las ich weiter und weiter und stieß zu meiner eigenen Überraschung auf sehr viele ähnliche Texte.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass es irgendeine Art von "Entfremdung" braucht, um sein Zimmer von außen betrachten zu können. Was meinen Sie damit genau?
Man muss eine Art Experimentalsituation herbeiführen. Es geht darum, bewusst eine Distanz zu inszenieren und den "Blick des Ethnologen" aufzusetzen. Eine solche Situation ergibt sich ganz spontan etwa, wenn man umzieht und sich die Zeit nimmt, die eigenen Sachen nicht nur einzupacken, sondern auch anzuschauen. Dann taucht auf, was verschollen war, und die Geschichten der Dinge kommen an die Oberfläche.
Nun hat sich anscheinend durch Corona eine derartige Experimentalsituation von selbst ergeben. Wie erleben Sie Ihre eigene Zimmerreise in dieser Krise?
Ich habe meine Zimmerreise vor fast zwei Monaten begonnen und poste seitdem auf meinem ansonsten inaktiven Facebook-Account jeden Tag einen Text und ein Foto. Man kann also mitlesen. Als Wissenschafter, der vor allem am Schreibtisch sitzt, war mein Zimmer immer schon so etwas wie ein besonderer Geschichtsraum für mich. Mein Arbeitszimmer ähnelt einer Wunderkammer, weil es voll mit merkwürdigen Dingen ist. Es gleicht dem Schreibtisch von Sigmund Freud ebenso sehr wie dem vom André Breton. Zu Beginn habe ich gleich eine ganze Reihe von Fotos davon angefertigt und mir dann überlegt, wozu ich etwas schreiben möchte. Vieles schien mir dann zu privat zu sein, anderes unverständlich für mögliche Leser, die mich nicht kennen, und wieder anderes ergab kein schönes Bild oder keine interessante Geschichte. Mit anderen Worten: Bereits die Kombination von Text und Bild ist eine Art medialer Verfremdungseffekt. Es ist für mich auch jeden Tag eine Überraschung, wohin es mich treibt. Vieles entdecke ich ganz neu.
Es scheint so, als wäre die typische Corona-Zimmerreise wie die Ihre multimedial und vernetzt - also letztlich ganz anders als die historischen Beispiele, die Sie in Ihrem Buch beschreiben.
Das ist ganz sicher so. Wir leben ja nicht die klösterliche Askese eines Kartäusermönchs, sondern einen Alltag mit Fernseher, Radio, DVD- und CD-Player, Computer usw. Daran ändert auch Corona nichts. Das hat aber zur Folge, dass der Raum unserer Wohnung oder unseres Zimmers immer viele Fenster in andere geöffnete Räume hat. Auch diese spielen bei einer Zimmerreise eine wichtige Rolle. Ich poste etwa meine Texte und antworte auch auf Reaktionen. Oder ich schreibe über Filme, die ich mir angesehen habe. Die virtuelle Zimmerreise war übrigens bereits vor Corona in einer bestimmten Form als Alltagspraxis vorhanden. Viele Menschen besuchen etwa ganz bewusst Websites mit Webcams, die etwa die Berggipfel in den Schweizer Alpen, den Tübinger Marktplatz oder den Times Square in NY zeigen.
Der englische Anthropologe Daniel Miller schreibt in seinem Buch "Der Trost der Dinge", dass Therapeuten (noch) viel zu wenig darauf achten würden, welche Ressourcen die einen umgebende Dingwelt für Menschen darstellen könnten. Könnte man "Zimmerreisen" auch therapeutisch einsetzen?
Es gibt auch ein älteres Buch von Tilmann Habermas, "Geliebte Objekte", bei dem es um besondere Dinge geht. Die ganze Tradition des Fetischismus ist von der Religion bis zur Psychoanalyse nichts anderes als eine Bindung an die Dingwelt - in veränderter, weil besetzter Gestalt.
Und jenseits der Dinge geht es nun auch um eine andere Form von Zeiterfahrung. Wen auch immer man heute im Bereich der Gesellschaftswissenschaft und auch der Politik befragt, welche positiven Auswirkungen die Corona-Pandemie hat, so betonen alle unisono die Entschleunigung und die Möglichkeit zu einer anderen Form von Konzentration. Weniger Termine, Homeoffice als Dauerzustand und nur noch virtuelle Termine ermöglichen, so betonen ebenfalls alle, eine andere Art des Arbeitens und eben auch des Lebens. Vieles davon ist Gegenstand von Zimmerreisen, die genau diese Aspekte betonen. Daher glaube ich, dass viele heute bereits - ohne es zu wissen - ihr Zimmer bereisen. Zu einer echten Zimmerreise fehlt dann nur noch ein letzter kleiner Turn.
Spüren Sie "den Trost der Dinge" in diesen Tagen auch an sich selbst?
Ja, aber für mich hat sich relativ wenig verändert, da ich als Wissenschafter ohnehin viel Zeit zuhause am Schreibtisch und in meiner Wohnung verbringe. Aber ich schenke ihnen mehr Aufmerksamkeit, da viele Termine und ohnehin alle Reisen wegfallen. So habe ich mich etwa seit Jahren zum ersten Mal um meinen Balkon gekümmert und Blumen gepflanzt. Vorher wären sie schlicht wegen der vielen Reisen eingegangen. Nun sind sie jeden Tag eine echte Freude.
Was empfehlen Sie dem potenziellen Zimmerreisenden als Einstieg in die Reise?
Es braucht eine Kombination von Konzentration und Distanz: eine Konzentration auf einzelne Dinge, ihre Geschichte, die eigenen Erinnerungen und all das, was dazugehört; und eine Distanz zum Alltag, weil dieser eine solche Wahrnehmung der Dinge und der eigenen Umgebung verstellt. Gewohnheit macht blind. Zimmerreisen hingegen öffnen die Wahrnehmung. Dafür braucht es einen frischen Blick und ein Quäntchen Zufall. Man kann daher durchaus auch zum Fotoapparat greifen und sich den Dingen nähern. Ein jeder Ausschnitt ist ja bereits eine andere Art der Wahrnehmung.