Es ist der 1. Advent. Eigentlich, so sagt die Mutter, wollte sie gar nicht mehr so lange warten mit dem Sterben, aber nun lebt sie immer noch, auch wenn ihr der Tod schon ins Gesicht geschrieben steht. Es brennt ein Kerzlein am Adventskranz, und die Tochter holt die Fotoalben aus der Vitrine, sucht nach den Bildern der Mutter als junge Frau und versucht "nachzuerzählen, was ich aus den Schilderungen ihrer Kindheit und Jugend in Erinnerung behalten habe, halte gelegentlich inne, wenn ich unsicher bin".
Es wird nicht mehr lange dauern, dann wird dieses lange Leben erloschen sein. Das Erzählen wird zum Trost, nicht für die Sterbende, sondern für die, die zurückbleiben wird: "Die Stunden verfließen während meines Erzählens, und ich rede mich in eine Trance, die den Schmerz des Abschieds in eine wärmende Trauer umwandelt."
Bücher der Trauer
Abschied von den Eltern - diese Form der Trauerliteratur, in der Töchter und Söhne vom Sterben des Vaters oder der Mutter erzählen, bildet inzwischen eine eigene Gattung. "Eine Frau" von Annie Ernaux, "Der Tod meiner Mutter" von Georg Diez, Delphine de Vigans "Das Lächeln meiner Mutter" und demnächst Zsuzsa Bánks "Sterben im Sommer" sind nur ein paar herausragende Beispiele dieses Schreibens, das keine fiktionalen Schutzmauern errichtet, sondern unverhüllt autobiographisch den Schmerz der Weiterlebenden mit Worten zu lindern sucht. Denn der Tod der Eltern bedeutet vor allem: "Ich werde aufhören, Kind zu sein, weil ich und mein Bruder jetzt als Nächstes an der Reihe sind zu sterben."

Melitta Breznik, die 1961 im steirischen Kapfenberg geboren wurde und schon lange in der Schweiz lebt, hat seit ihrem Debüt "Nachtdienst" (1995) stets mehr oder weniger unverstellt von sich und ihrer Familie erzählt: von ihrer Arbeit als Ärztin, von der an Schizophrenie erkrankten Großmutter, die dem "Euthanasieprogramm" der Nazis zum Opfer fiel, von den Kriegstraumata der Elterngeneration und ihren Folgen für die Nachgeborenen.
Nun also berichtet sie von den Wochen, die sie an der Seite der langsam aus dem Leben verschwindenden Mutter verbringt. Dabei kommt natürlich auch deren Lebensgeschichte zur Sprache, das Verhältnis zu ihrer Tochter, die spät als "Nachzüglerin" zur Welt kam, der Tod des ältesten Bruders, der mit 18 Jahren einem Tumor erlag.
Das Besondere und besonders Gelungene an diesem Buch aber ist etwas anderes. Es thematisiert nämlich die Gefühlswelt der Tochter, die von einem Tag auf den anderen zur Sterbebegleiterin wird. Breznik zeigt eindringlich, wie mühsam, fordernd, nicht selten überfordernd diese Aufgabe ist. Wie groß vor allem der innere moralische Druck ist, die Mutter in diesen letzten Lebenstagen nicht fremden Händen zu überlassen: "Im Moment gibt es kein Entkommen, ich kann hier nicht weg, kann nicht gegen Mutters Willen handeln, jeder Gedanke daran ist Verrat an ihrem Sterben." Und bei allem Trost, den Freundinnen aus Jugendtagen oder der eigene Bruder spenden können, ist es doch so: Mit ihrer Traurigkeit ist die Tochter letztlich allein.
Zwei Arten von Zeit
Vor allem aber gelingt diesem Buch eines: Es verändert die Zeit. "Der Tod braucht Zeit, er duldet keine Eile, er duldet nichts anderes neben sich." Die Zeit des Sterbens ist eine andere als die Zeit des Lebens, und diese "Eigenzeit" des Todes spürbar werden zu lassen, ist das große Kunststück dieses Buches.
Die Wahrnehmung der Welt wird eine andere, der Blick aus dem Fenster, ein Lufthauch im Zimmer, der immer weniger werdende Körper der Mutter: "Ich platziere vorsichtig ein Kissen zwischen ihren Knien, damit nicht Knochen auf Knochen zu liegen kommt, lege ihr einen nach Arnika duftenden Lappen auf die Stirn, stelle den Ventilator neben ihr Bett, damit sein Lufthauch, im Takt der langsamen Schwenkbewegungen, über Mutters Gesicht streichen kann, wie der Wind, der durch das geöffnete Eisenbahnfenster in die Haare bläst, was sie auf gemeinsamen Reisen immer genossen hat. Es braucht nicht mehr viel, wenn das Leben sich zurückzieht und der Körper, als Überbleibsel einer irdischen Last, die Nachhut des Verschwindens bildet." So still wie diese Szene ist auch dieses Buch und gerade deshalb besonders eindrücklich.