Es gibt die kleinen Wunder in der Literatur oder etwa in der Kunst. Und ein solches kleines Wunder ist zweifellos Martin Panchauds Comic "Die Farbe der Dinge". So wie dies in den letzten zwei Jahrzehnten etwa die Comics des US-amerikanischen Zeichners Chris Ware waren, der dem Medium völlig neue Möglichkeiten des Erzählens eröffnet hat. Wares Comics, von "Jimmy Corrigan. Der klügste Junge der Welt" (2001, dt. 2013), "Building Stories" (2012) bis Rusty Brown" (2019) - sehr streng reduzierte und grafisch formalisierte Zeichnungen mit geometrisch präzis geplanten Seitenaufrissen - überraschen nicht zuletzt durch ihre erzählerische Intensität. Damit Erzählen im Comic funktioniert, müssen die Bilder keineswegs realistisch sein. Aufs Radikalste veranschaulicht das ein Comic des Kanadiers Shane Simmons, der ebenfalls in diesem Frühjahr auf Deutsch neu aufgelegt wurde. "Das lange ungelernte Leben des Roland Gethers" (1993) ist eine paradigmatische Biografie, die ein Leben zwischen viktorianischem Zeitalter, Kolonialsystem und den zwei Weltkriegen im Zeitraffer abrollen lässt. Die Figuren sind darin förmlich auf Punkte reduziert. Begründet ist diese pointierte Verkleinerung durch die Idee der Distanz, der Totale, aus der die Figuren aufgenommen sind. Ein Strich verbindet sie mit einem Text. Wer daran zweifelt, dass auch solche gezeichneten Punkte zu Leben erwachen können, sollte sich diesen Comic zu Gemüte führen, um sehen, wie reibungslos die Geschichte funktioniert, und um zu begreifen, wie sehr Erzählen auf die Komplizenschaft der Leser angewiesen ist.
Figuren wie Emser Pastillen
Auf einer vergleichbaren Erkenntnis beruht auch Martin Panchauds Comic. Im Gegensatz zu Simmons’ ist Panchaud weniger spartanisch: Seine Figuren besitzen am Buchumschlag und in hervorgehobenen Szenen die Größe einer Emser Pastille. Im gewöhnlichen Handlungsablauf haben sie einen Durchmesser von etwa fünf Millimeter. Vor allem aber bestehen die ringförmigen Kreise aus zweierlei Farben. Das ermöglicht die Darstellung auch komplexerer Interaktionen. Man wird auch hier über den Sog erstaunt sein. "Der menschliche Geist ist in der Lage, Empfindungen für abstrakte Formen zu hegen, wenn diese zuvor in einen erzählerischen Kontext gesetzt wurden", so bringt Panchaud den Grund dafür in einem Interview zur Sprache: "Mein Stil beruht auf Prinzipien, die der Vorstellungskraft sehr viel Raum gewähren."
Der 1982 geborene Genfer Zeichner, der als Kind an einer Dyslexie litt, hatte sich seither mit unterschiedlichen Formen der Kommunikation auseinandergesetzt. Bereits um 2009 begann Panchaud mit Infografiken und ihrer Anwendbarkeit im Medium des Comics zu experimentieren. 2016 erregte der französischsprachige Schweizer große Aufmerksamkeit mit einer Adaption einer Episode von Star Wars, "A New Hope" (1977), im Internet: "Swanh.net" ist durchgehend in einem Infografik-Stil gezeichnet und bindet daher Daten, Zahlen und Diagramme ebenso in die Erzählung ein wie Texte und Bilder.
Innovative ästhetische Mittel
Panchauds "Die Farbe der Dinge" ist ästhetisch ein ebenso kristallklares wie farbensprühendes Comicwerk, das die Geschichte eines Jungen, Simon Hope, erzählt, der von seinen Kumpels gehänselt und gemobbt wird und alsbald in einen Teufelskreis aus Abhängigkeiten gelangt. Während sein gewalttätiger Vater zu Hause Simons Mutter komareif schlägt, fiebert Simon aufgrund eines vielversprechenden Tipps für das Pferderennen in Ascot einem Befreiungsschlag entgegen. Doch wie soll ein unmündiger 16-Jähriger einen Wettschein einlösen, wenn seine Mutter im Koma liegt und sein Vater plötzlich verschwunden ist?
Abseits eines spannungsreich gestrickten Plots begeistert der Comic durch seine vielfältig raffinierten und innovativen ästhetischen Mittel. Neben der Reduktion gibt es auch Üppigkeit: in der Darstellung von Landschaftsausschnitten, Rennbahnen und möblierten Innenräumen von Wohnungen und Interieurs von Autos, stets aus der Vogelperspektive. Der Autor verwendet ebenso geografische Karten, Leitsysteme wie Symbolbilder und Gebrauchsanweisungen zur Veranschaulichung von Handlungselementen, aber auch die Zerlegung von Gegenständen in ihre Einzelteile, die mehr sind als ihre zusammengesetzte Summe. Panchaud entlockt Schaubildern ihre konkrete Poesie und zeigt, wie die serielle Anordnung von Panels letztlich gleich Ablaufdiagrammen funktioniert. Dadurch ist der Comic originell und analytisch zugleich.