Dass Nicolas Mathieu ein begnadeter Milieu-Schilderer ist, hat er mit seinem preisgekrönten Roman "Wie später ihre Kinder" (2018, auf Deutsch 2019) hinreichend und eindrucksvoll bewiesen. Diese Gabe, die Welt der kleinen Leute, der hart arbeitenden oder abgehängten Menschen in der wenig glanzvollen französischen Provinz eindringlich zu beschreiben, hat ihn auch in seinem neuen Roman nicht verlassen.

Ein Absatz, und man sieht die titelgebende Kneipe irgendwo im weniger schicken Teil von Nancy plastisch vor sich: "Das Royal war eine langgestreckte Kneipe mit dunklen Wänden, einem langen Tresen, drei Zapfhähnen für Bier und einer staubigen Fensterfront mit Blick auf ein chinesisches Restaurant, einen Schuster, einen Supermarkt. Hinten im Raum gab es einen Kicker und einen Billardtisch. Die Möbel stammten aus den Siebzigern, Holz und blaues Kunstleder. Die Klos waren eher sauber und voller Aufkleber. Es herrschte immer eine Art Feierabendstimmung. Die Kundschaft veränderte sich ab und an, aber musikalisch blieb man beim Rock."
Nicht im besten Alter
Nicht minder prägnant fällt die Charakterisierung der anderen Titelgeberin aus, nämlich Rose: Sekretärin, Fiat Punto, günstige Mietwohnung, Kinder aus dem Haus, geschieden. "Rose war fast fünfzig und störte sich nicht weiter dran. Sie war sich ihrer Vorzüge bewusst, ihre Figur hatte sie nicht im Stich gelassen, und dann ihre Beine, wirklich schön. Nur ihr Gesicht verriet sie ein wenig. Es war nicht aufgequollen und auch nicht besonders eingefallen, aber Zeit, Tränen und schlaflose Nächte hatten ihre Spuren hinterlassen. Fältchen belagerten ihren Mund. Und ihre Haare hatten an Fülle verloren, jenen sinnlichen Überfluss, der ihren Erfolg begründet hatte. Wenigstens sah man wegen der Tönung die grauen Strähnen nicht. Sie hatte jenes schwierige Alter erreicht, in dem sich die verbliebene Frische, das Funkeln im Alltag aufzulösen schien. Manchmal erwischte sie sich bei einem Meeting oder im Bus dabei, wie sie ihre Hände versteckte, die ihr fremd geworden waren. Wenn sie sich abends im Spiegel betrachtete, nahm sie sich oft vor, ab morgen besser aufzupassen."
Das Royal ist Roses Zuhause, ihre Freundin Marie-Jeanne schneidet den Leuten hier die Haare, und Fred, der Wirt, wacht darüber, dass sich alle ordentlich benehmen. Trotz ihres nach wie vor respektablen Aussehens hat Rose jedoch mit Männern kein rechtes Glück mehr, was damit zu tun hat, dass sie in der Vergangenheit reichlich Gewalterfahrungen gemacht hat. Nach der letzten dieser Erfahrungen, die den Namen Thierry trug und mit dem Ausstellen von Energieausweisen ihr Geld verdiente, hat sie sich sogar eine Waffe gekauft, "einen kleinen Revolver, eine Neun Millimeter, fünf Patronen, 650 Euro. Keine kleine Investition und eine Ansage. (...) Die Angst sollte die Seiten wechseln."
Dieser Revolver wird im Roman, der eher eine Novelle ist, zum "Falken", zum zentralen Dingsymbol, das Roses Leben eine neue Wendung gibt. Sie verpasst damit eines Abends einem Hund, der angefahren wurde und von seinem Besitzer blutend und fast schon tot ins Royal gebracht wird, den Gnadenschuss - woraufhin sich endlich eine neue, dauerhafte Beziehung zu ergeben scheint. Der Roman endet nach nicht einmal 100 Seiten mit einem Knalleffekt, der hier nicht verraten sei.
Zu früh zu Ende
Man liest das Buch einigermaßen atemlos und ist dann doch irgendwie enttäuscht, dass es schon wieder zu Ende ist. Der 1978 geborene Nicolas Mathieu erweist sich erneut als Meister des soziologischen Romans, und doch wirkt es, als habe er es sich diesmal etwas zu leicht gemacht. Manches bleibt unmotiviert (etwa Roses Sprung in die Dauerhaftigkeit der neuen Beziehung), die Nebenfiguren könnten allesamt etwas mehr literarisches Profil vertragen, und am Schluss wünscht man sich nichts sehnlicher als einen großen Roman rund um diese Kneipe und ihre Stammgäste.
Oder anders ausgedrückt: "Rose Royal" ist ein kleiner, feiner Roman, der sich mit deutlich zu wenig zufriedengibt. Ein (wieder äußerst souverän übersetztes) Versprechen auf ein neues Meisterwerk à la "Wie später ihre Kinder". Nicht mehr, aber auch nicht weniger.