Dass sich der südafrikanische Künstler William Kentridge eines Tages in einem historischen Roman wiederfinden würde, hätte er sich wohl niemals gedacht. 2017 wurde dem Videokünstler im Museum der Moderne zu Salzburg eine große Retrospektive ausgerichtet, "Thick Time" überschrieben. Darin war ein musikalisch untermalter Schwarz-Weiß-Prospekt zu sehen, in dem sich Menschen, manche beladen, manche als starke Schattenrisse, durchs Blickfeld des Publikums bewegten.
Und nun schlägt man den neuen Roman von Brita Steinwendtner, der zwischen 1866 und 1916 spielt, auf und liest als Erstes dies: "Im Rausch von Trommeln und Trompeten, von Zimbeln, Geigen und Posaunen, von Klarinetten und Kalimba, zieht eine Karawane von Menschen in das Bild. Auf gebrochener Leinwand gebrochene Menschen." Es ist das Szenario von Kentridges "Thick Time", der dicken Zeit, die die Menschen wie Bernstein aufbewahrt, ihre Wünsche, Bestrebungen, Gefühle, Sehnsüchte und Verletzungen, die die Zeit ihnen schlug.
Im Falle der Hauptfigur, Johannes Czermak aus Neustadt an der Mettau, tschechisch Nové Město nad Metují, im "Böhmischen Paradies" unweit der Grenze Böhmens zu Schlesien, sind die Verletzungen unübersehbar. Denn 1866, er ist 16 Jahre jung und ein begabter Trompeter, wird er in der Schlacht von Königgrätz schwer verletzt, erst zwei Tage später fast tot gefunden und monatelang in Spitälern gesund gepflegt. Doch sein Gesicht bleibt zerfetzt und schief.

Zurück ins Leben findet Czermak, der unübersehbar Gezeichnete und daher Außenseiter, nur schwer. Er erlernt den Beruf des Kunstschmieds und entdeckt das Musikspiel wieder. Innerhalb seiner Familie zeigt sich jenes Ur-Problem, das das Habsburgerreich nie bewältigen konnte: der Nationalismus, deutsch hypertroph bei Johannes von deutscher Überlegenheit bramarbasierendem Schwager und dessen Widerpart, tschechischer Nationalradikalismus, bei seinem Bruder Karl, der sich "Karel" nennt und unter ominösen Umständen stirbt.
Johannes steigt zur rechten Hand des Schmiedebesitzers auf, verliebt sich unglücklich in seine Schwägerin. Bildungshungrig, zieht er mit Anfang fünfzig nach Oberösterreich und wird Leiter einer großen Sensen- und Sichelschmiede am Flüsschen Rinnerberg bei Leonstein. Alles endet in Venedig mit emotionaler Harmonie in einer Welt voll Disharmonie, dem Weltkrieg nämlich. Und Johannes verabscheut alles Kriegerische.
Steinwendtner, die von 1990 bis 2012 als Intendantin der Rauriser Literaturtage amtierte, veröffentlichte als Autorin vieles, etwa mit "Der Welt entlang" (2016) und "Jeder Ort hat seinen Traum" (2007) zwei Bände über Dichter und ihre Landschaften und mit "Du Engel Du Teufel" ein Buch über die Liebesbeziehung von Alfred Kubin und Emmy Haesele.
"Gesicht im blinden Spiegel" ist ein intensiver Charakter- und leidenschaftlicher Anti-Kriegs-Roman. Es ist auch ein feinfühliger historischer Roman, allerdings eine ganze dichterische Milchstraße entfernt von eindimensional Trivialem à la Iny Lorentz, Sabine Ebert oder Ken Follett. Näher ist Steinwendtners oft poetische Prosa einem Stefan Zweig, in der Charakter(nach)zeichnung, der Schilderung der Gefühlstiefe. Eine Pseudo-Rekonstruktion untergegangener Arbeits- und Lebenswelten durchkreuzt Steinwendtner klug und leichthändig, sie montiert und collagiert zahlreiche literarische Zitate und Anspielungen hinein, von Kurt Tucholsky bis H.C. Artmann, Gerald Bisinger, Georg Trakl und Friederike Mayröcker.