
"Formen der Verstörung" hieß das Buch, das Lydia Davis 2011 in unseren Breiten einer "literarisch interessierten Öffentlichkeit" bekannt gemacht hat. "Fünf Anzeichen der Verstörung" heißt die letzte Geschichte in "Es ist, wie's ist", dem neuesten Band, der von Davis in deutscher Sprache vorliegt.
Original "Break It Down" betitelt und bereits 1986 erschienen, ist es in der Schaffensfolge der 1947 in Massachusetts geborenen und heute in Upstate New York wohnhaften Autorin indes der erste jener (bisher) fünf Kurzgeschichten-Bände, auf denen ihre große Reputation gründet: Eigentümliche Prosa-Habitate, in denen beizeiten nicht mehr als ein Satz oder gar nur das Fragment eines solchen gedeiht, lakonische Kurzgeschichten entstehen, die eine Pointe haben können oder auch nicht; und in denen dann wieder raumgreifende, detailreiche Beobachtungen der Natur, Studien und Abwägungen menschlicher Verhaltensweisen, Porträts historischer Persönlichkeiten und schachspielartige Auseinandersetzungen mit der Sprache im Ringen um den richtigen Ausdruck üppig sprießen. Davis nennt sie unterschiedslos "Stories".
Zeit ist unwichtig
Mit "Es ist, wie's ist" sind deren deutsche Übertragungen durch Klaus Hoffer bei Droschl vollständig. Wie die 34-jährige Zeitspanne zwischen Original und Übersetzung drastisch belegt, gehorchen diese nicht einer chronologischen Reihenfolge. Wie aber wiederum die Texte selbst klarmachen, fällt das Entstehungsdatum auch nicht wirklich ins Gewicht.
Zum einen hat es Davis stets vermieden, ihre Texte mit Zeitkolorit - politischen Ereignissen, technologischen Innovationen, modischen, kulturellen oder so-zialen Trends - zu beladen. Persönliches Erleben wiederum wird meist so abstrahiert dargestellt, dass es kaum mehr zu biographischen Rückschlüssen - besser gesagt: Kurzschlüssen - taugt. Voyeure werden sich solchermaßen schwertun, aus diesen Geschichten etwa aufschlussreiche Eindrücke ihrer vierjährigen, 1977 geschiedenen Ehe mit dem späteren Star-Literaten Paul Auster zu gewinnen.
Zum anderen sind schon in diesem ersten Band alle Wesensmerkmale entwickelt, die die späteren Stories-Editionen charakterisieren. Stilistisch entfaltet die Autorin, die die Bewunderung von Kollegen wie Jonathan Franzen oder Jeffrey Eugenides, aber auch eines Pop-Genies wie Magnetic-Fields-Kopf Stephin Merritt genießt, bereits ihr ganzes reichhaltiges Repertoire an Möglichkeiten, Geschichten mehr erzählen zu lassen, als es ihre absichtsvoll karg gehaltenen Narrative unmittelbar hergeben.

Es sind auch schon ziemlich alle inhaltlichen Besonderheiten da, die man aus Davis' späteren Werken kennt. Da ist zum Beispiel die eigentümlich freudvolle Antizipation späterer Lebensabschnitte bis ins hohe Alter. "Sie freute sich darauf, eine alte Frau zu sein und seltsame Kleider zu tragen. Sie würde ein dunkelbraunes oder schwarzes Kleid ohne Schnitt aus dünnem Stoff tragen, vielleicht mit kleinen Blumen drauf, ganz bestimmt mit zerfranstem Kragen und Saum und Ärmelloch, das von ihren knochigen Schultern und über ihre knochigen Hüften und Knie schief herabhängt", beginnt die Geschichte "Was eine alte Frau tragen wird".
Nach und nach wird die Freude aber überlagert von der Vorstellung nachlassender Körperfunktionen und sozialer Akzeptanz: des schwindenden Hör- und Sehvermögens; der Schlafschwierigkeiten; des Wissens, für niemanden mehr interessant zu sein, bisweilen die Umwelt sogar zu nerven. Am Schluss steht müde Desillusion.
Die Titelgeschichte "Es ist, wie's ist" erzählt Davis aus der Perspektive eines Mannes, der eine beendete Beziehung in Geld aufzuwiegen versucht, und sie steht für ihre Fähigkeit, Geschichten zu "neurotisieren": also durch Verschachtelung scheinbar nicht zusammenpassender Komponenten Irritation und/oder Befremden hervorzurufen. In diesem Fall tun sich Dissonanzen auf zwei Ebenen auf: formal zwischen der Frau, die sie geschaffen hat, und der männlichen Hauptfigur; emotional zwischen der tiefen, im Trennungsschmerz kulminierenden Empfindung echter Liebe und dem berechnenden Kalkül der Wirtschaftlichkeit.
"Du weißt, dass der Schmerz Teil dieser ganzen Geschichte ist. Und es ist nicht so, dass du hinterher sagen kannst, die Lust war größer als der Schmerz, und deshalb würdest du's wieder tun. Das hat nichts damit zu tun. Man kann es nicht messen, weil der Schmerz im Nachhinein kommt und länger anhält. Also lautet die Frage in Wahrheit: Warum rät dir der Schmerz nicht, zu sagen, noch einmal tu ich das nicht. Wenn der Schmerz so groß ist, dass du es sagen musst - und trotzdem nicht sagst. Also denke ich bloß darüber nach und wie es möglich ist, dass du mit $ 600, mehr noch, mit $ 1000 ein- und mit einem alten Hemd aus der Geschichte aussteigst."
Französisch lernen
Ein (schwarz)humoriges Meisterstück ist, wie Davis, die Proust und Flaubert ins Englische übertragen hat, Französischunterricht erteilt. Wenn man eine Fremdsprache erlerne, doziert sie, solle man immer mit den Nutztieren beginnen: "Finden Sie heraus, was eine vache ist. Eine vache wird am Morgen gemolken und am Abend noch einmal gemolken, den Kopf in einer Runge, während ihr mit Dung triefender Schwanz hin und her schlägt." Die Worte "Wiedergekäutes" und "Muhen" - die bekanntlich auch viel mit einer vache zu tun haben - brauche man dagegen auf Französisch nicht zu kennen, "weil Sie beinahe nie die Gelegenheit haben werden, sie zu verwenden".
Wirklich wichtige neue Vokabel dagegen muss Mrs. Davis' geneigte Schülerschaft als Hausübung für die nächste Lektion lernen. Zum Beispiel "le meurtre: der Mord".