Natürlich Maigret!
Aber nicht nur Maigret.
Georges Simenon ist ein Phänomen: Auf der einen Seite schrieb er Krimis, die als Modelle des Genres gelten, auf der anderen Seite psychologische Romane, in denen die Kriminalroman-Elemente, sofern sie überhaupt vorhanden sind, nur als Katalysatoren für die Handlung dienen. Dass Simenons Romane, die Maigrets ebenso wie die Non-Maigrets, derzeit nach und nach auf Deutsch greifbar werden, ist also willkommen und alles, was man sonst noch an Gutem darüber sagen mag.
75 Mal ließ der belgische Autor in Romanen seinen Kommissar Maigret Morde aufklären und schuf damit einen Prototyp des Ermittlers: Langsam wühlt er sich durch zur Entlarvung des Täters, der Menschenkenntnis und der Intuition mindestens im gleichen Maß folgend wie den Beweisen: der Kommissar als stoischer Psychologe, der die Seelen als Produkte ihres Milieus wahrnimmt.
Nur ein Vielschreiber?
Zu den Maigrets kommen mehr als 100 andere Romane und mehr als 1.000 Erzählungen unterschiedlichen Umfangs: Simenon war ein Vielschreiber. Das mindert wenigstens im deutschsprachigen Raum sein Ansehen. Ein bedeutender Autor, so die gängige Meinung, müsse verzweifelt um jedes Wort ringen. Leichtes Schaffen und Tiefe scheinen unvereinbar.
Kurzer Schwenk: Wie war das mit Wolfgang Amadeus Mozart? In rund 28 Jahre Schaffenszeit entstanden mehr als 600 Werke von teilweise beträchtlichem Umfang - immerhin: 18 (fertiggeschriebene) Opern sind darunter. Niemand würde sein Genie bezweifeln. Ja, aber Mozart hatte eben diese besondere Begabung, das Werk im Kopf fertig zu komponieren und es dann nur noch niederzuschreiben.
Die "Methode Simenon" war sehr ähnlich: Simenon entwarf ein Buch in allen Details, verinnerlichte das Konzept, versetzte sich in einen - wie er es nannte - "Zustand der Gnade", der etwa zwei Wochen anhielt, und schrieb das Buch in einem Zug wie in Trance herunter.
Wer glaubt, er müsse daraus auf zwangsläufige Schlampigkeit schließen, irrt: Simenon gelingt es, Wortwahl, Situationsbeschreibung, Tempowechsel und Dialogführung untrennbar miteinander zu verschmelzen. Die Handlung baut er dabei weniger raffiniert auf als andere klassische Whodunit-Autoren, etwa Agatha Christie, G. K. Chesterton oder Ngaio Marsh. Sie bekommt dadurch Gewicht, dass Simenon ihre Facetten wie unter einem Vergrößerungsglas betrachtet.
Mögen die Maigret-Romane Simenons Ruhm unter Krimilesern hochhalten, so sind die Non-Maigrets der Teil von Simenons Schaffen, der ihn, weit über die Kriminalliteratur hinaus, zum bedeutenden Autor macht. Dem Kampa-Verlag ist es hoch anzurechnen, dass er die im Entstehen begriffene Simenon-Ausgabe sowohl auf die mit Sicherheit besser verkäuflichen Maigrets als auch auf die gleichzeitig erscheinenden Non-Maigrets stützt.
Eingerissene Genregrenzen
Die erweisen sich nun als eine Literatur, die alle Genregrenzen sprengt. Dass die Bücher spannend sind, gereicht ihnen wohl nur im deutschen Sprachraum zum Nachteil, wo man jede endlose Nabelschau von vorneherein für bedeutendere Literatur hält als die Romane etwa eines Robert Louis Stevenson oder eines Joseph Conrad.
Manche der Non-Maigrets mögen Kriminalroman-Elemente haben, aber auch in ihnen geht es Simenon selten um das Verbrechen an sich. Weitaus häufiger interessieren ihn die seelischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge, die zum Verbrechen führen. So gibt es im Roman "Der Passagier der Polarlys" zwar einen Mord, aber er löst lediglich eine Kette von Ereignissen aus, die alle bösen Vorahnungen des Kapitäns sozusagen übererfüllen. "Die Phantome des Hutmachers" wiederum lassen sich als Psychothriller über die Faszination des Bösen lesen und als Geschichte einer bizarren Nachbarschaft.
Bedient sich Simenon in solchen Romanen immerhin noch der Thriller-Elemente wie Mord, Verdächtigung, Mitwisserschaft und dergleichen, sind "Die Glocken von Bicêtre" in der Handlung völlig davon frei: Der Roman besteht aus den inneren Monologen eines sprechunfähigen Schlaganfall-Patienten, den eine Krankenschwester ins Leben zurückzuholen versucht. Trotz der reduzierten Vorgabe ist das Buch spannend, weil die Hauptfigur, der Verleger René Maugras, eine von vorneherein interessante Gestalt, vor dem Problem steht, sein Ich neu zu definieren. Wie sich Maigret langsam dem Täter nähert, so tastet sich Maugras an das neue Leben heran; stößt Maigret auf äußere Widerstände, sind es bei Maugras innere. Der Spannungsbogen ist letzten Endes der gleiche - oder der Leser empfindet beides, sowohl Maigrets Tätersuche wie Maugras Ich-Erkundung, als ermüdend.
Was ist "Handlung"?
Simenon wird nämlich wiederholt der Vorwurf gemacht, seine Bücher hätten im Grund keine Handlung, sie würden nicht von einem Punkt A auf einen Punkt B zugehen, sondern auf der Stelle treten, sobald der Handlungsauslöser gesetzt ist. Das mag sogar auf "Tropenkoller" zutreffen. Der Inhalt lässt sich in einem Satz wiedergeben: Hitze und Langeweile französischer Kolonialisten führen ins Verbrechen. Doch wie Simenon den Verfall Joseph Timars zeigt, ist einzigartig. Gerade noch bei Joseph Conrad wird man vergleichbare Studien des Abgleitens in den Irrsinn finden.
Die genannten Beispiele seien nicht als Leseempfehlung zu verstehen (doch, auch), sondern als Zeugnisse für ein Phänomen: Spannung erwächst nicht aus der Handlung, sondern aus der Erzählweise. Simenon ist es möglich, aus den Reduktionen Kapital zu schlagen. Wie sein Wortschatz nicht karg erscheint, sondern konzentriert, so wirken seine Handlungen weniger dürftig als verdichtet. Während man in den Maigret-Romanen allerdings die Mechanik spürt, wenngleich ohne sie aufdringlich zu finden, so sind die Non-Maigrets aufgrund ihrer Figuren und ihrer Unberechenbarkeit immer wieder überraschend.
Simenons Gabe, Handlungen interessant zu gestalten aufgrund der handelnden Personen (während Spannungsautoren in der Regel den umgekehrten Weg gehen), ist der eigentliche Kern dieser Erzähltechnik. Sie kann im Extremfall sogar auf das äußere Geschehen verzichten und es, mithilfe einer präzise benennenden Sprache, ganz in das Innenleben der Figuren verlagern. Das mag man, sofern man herkömmlichen Krimis und Thrillern anhängt, als Manko empfinden. Oder, denkt man über Genregrenzen hinweg, als untrügliches Zeichen bedeutender Literatur.