In einer Rede, die Norbert Gstrein 2018 im Rahmen des renommierten Lucerne Festivals hielt und die eine Art poetologisches Seitenstück zu seinem neuesten Roman darstellt, zitierte er den amerikanischen Dichter Robert Frost. Der habe das Schreiben folgendermaßen definiert: "Die eigene Geschichte erzählen, als wäre es die von jemand anderem, die Geschichte von jemand anderem erzählen, als wäre es die eigene."

Genau das macht der 1961 in Tirol geborene Gstrein seit seiner Debüt-Erzählung "Einer" (1988), wobei er die Schlagzahl des Schreibens im Laufe der Jahre deutlich gesteigert hat. Erst vor zwei Jahren erschien sein Roman "Als ich jung war" (und wurde mit dem Österreichischen Buchpreis ausgezeichnet), und "Der zweite Jakob" ist der sage und schreibe siebente nicht gerade schmale Gstrein-Roman seit 2008.
Dass die literarischen Qualitäten des Autors angesichts dessen nicht leiden, dass im Gegenteil das thematisch-motivische Netz dieses Oeuvres immer dichter und feiner wird, dass die sprachlich-stilistische Souveränität seines Schreibens wie selbstverständlich und mühelos wirkt - all das macht Gstrein zu einem der wichtigsten Gegenwartsautoren und jeden neuen Roman zu einem Erlebnis.
Wer man ist
"Whats in a name?" Auf diese Shakespearesche Frage kann man im Falle von "Der zweite Jakob" nur antworten: alles. "Die Philosophen haben sich Gedanken darüber gemacht, was der Name einer Person bedeutet, und wenn man genauer darüber nachdenkt, ist man zuerst tatsächlich viel zu lange damit beschäftigt, sich einen Namen zu machen und, sobald man sich einen gemacht hat, fast genauso lange mit der absurden Angst, ihn wieder zu verlieren, oder vielleicht auch mit dem vergeblichen Versuch, ihn loszuwerden. Dabei reichte es vollauf, dass man der war, zu dem sie nach der Geburt oder meinetwegen auch bei der Taufe gesagt hatten: Du bist dieser hier."
Jakob Thurner ist ein weltweit erfolgreicher Schauspieler aus Tirol, dem vor allem in Amerika oft die Rolle des "Knochenbrechers" angeboten wird - als Österreicher wirke man dabei "authentisch" - und der auch schon mehrmals Frauenmörder gespielt hat. Eigentlich heißt er anders, doch den Vornamen hat er sich von seinem Onkel Jakob, einem schrulligen Außenseiter, "welt- und lebenstraurig", geliehen, und der ursprüngliche Nachname "mit den vier aufeinanderfolgenden Konsonanten" (!) wäre im internationalen Filmbusiness eher hinderlich gewesen, weshalb er - der Sohn und Enkel einer Hotel- und Skiliftbesitzerdynastie - den Namen der Großmutter übernommen hat.
Dieser Jakob Thurner steht kurz vor seinem 60. Geburtstag, die Heimatgemeinde will ihm ein Fest samt Statuen-Enthüllung ausrichten und ein Auftragsschreiber, der zuvor einen Herzchirurgen und einen Haubenkoch porträtiert hat, soll die autorisierte Biografie verfassen. In Wirklichkeit ist dieses Leben natürlich "ein einziger unauflösbarer Wirrwarr", und in dessen Zentrum führt die Frage, die Jakobs Tochter Luzie ihrem Vater stellt: Was das Schlimmste sei, dass er jemals getan habe.
Und so erfahren wir die Geschichte, die sich vor Jahren bei Dreharbeiten an der amerikanisch-mexikanischen Grenze ereignete, als Jakob neben einer Schauspielkollegin im Auto saß und sie irgendwo in der Wüste eine unbekannte Frau überfuhren und tot am Straßenrand liegen ließen. Dieses bisher gut gehütete Geheimnis erzählt Jakob seiner Tochter, die ob der "Schuld" ihres Vaters entsetzt und verstört ist.
"Ich war ein fast sechzigjähriger Mann mit einer Biografie, die ich nicht haben wollte, und einer Tochter, die sich von mir abgewandt hatte, und die gleichzeitig der einzige Mensch war, dem ich mich wirklich verpflichtet fühlte."
Der Roman wird gleichsam zur "unautorisierten" Beschreibung eines Lebens, das viel komplexer, viel abgründiger und viel widersprüchlicher ist, als es gängige Lebenserzählungen gern vermitteln. Der runde Geburtstag, die "bald sechs Jahrzehnte angehäufter Existenz", erscheinen dem "Helden" nur noch schauerlich, "wenn er überlegte, wie viele ausgelöschte Möglichkeiten in jeder Realisierung steckten".
Ein anderes Leben
Wie immer bei Norbert Gstrein löst sich der feste Grund der Gewissheit im Laufe des Erzählens immer weiter auf, und wir Leser werden Zeugen, wie ein Mensch sich seiner selbst immer ungewisser wird. Gstrein treibt dieses Spiel mit Fakten und Fiktion, mit Realität und Möglichkeit, mit der Wahrheit, die immer nur im Plural zu haben ist, ebenso lust- wie kunstvoll bis an den Punkt, da aus einem Leben ein unbeschriebenes Blatt wird, das auch ganz anders gefüllt werden könnte.
"Der zweite Jakob" zeigt so deutlich wie bisher kein Roman von Gstrein, dass dieser Autor seit mehr als dreißig Jahren im Grunde an einem einzigen großen Werk schreibt. "Jetzt kommen sie und holen Jakob", hieß der erste Satz, mit dem Gstrein 1988 die literarische Bühne betrat. "Solche wie uns zwei hat es nie gegeben", hat dieser erste Jakob angeblich einmal zu seinem Neffen, dem zweiten, gesagt. Aus der lakonischen, lauernden Zweideutigkeit dieses Satzes schafft Norbert Gstrein immer wieder aufs Neue große Literatur.