Ein Ei, das sich weigert, hart zu werden: Damit - also dem Text "Herr Gröttrup setzt sich hin" hat Sharon Dodua Otoo 2016 den Bachmannpreis gewonnen. Nun ist ihr Debütroman "Adas Raum" erschienen und da taucht auch das Ei wieder auf - sowie andere alte Bekannte aus dem prämierten Text. Otoo sieht den Roman als Erklärung, die sie schuldig war, aber er ist sehr viel mehr. Er begleitet vier Frauen - oder eigentlich eine: Ada. Sie lebt in Ghana kurz vor der Kolonialisierung durch die Portugiesen, in Deutschland, als Zwangsprostituierte in einem KZ, in London als nicht wahrgenommene Wissenschafterin und im Berlin der Jetzt-Zeit.

Otoo sieht sich auch als Aktivistin für eine gerechtere Behandlung von Schwarzen. "Dürfen Schwarze Blumen malen?" hieß die Rede, die sie 2020 beim Bachmannpreis gehalten hat. Da hat sie erklärt, dass "Schwarz" - mit einem großen S geschrieben - für sie nicht nur eine Hautfarbe ist, sondern eine "politische Selbstbezeichnung". Sie schreibe immer auch als Repräsentantin einer Community. "Dass ich mich Schwarz nenne, dass ich von Community spreche, das ist ein Mittel zum Zweck, das ist nicht der Soll-Zustand. Das ist, was ich versuche, um zum Ziel zu kommen, dass es tatsächlich irgendwann egal ist."

"Wiener Zeitung": In Ihrem Roman kommen vier Frauen mit dem Namen Ada vor - welche davon war als Erste in Ihrem Kopf?

Sharon Dodua Otoo: Die allererste war ja schon in meinem Text für den Bachmannpreis. Aber von denen aus dem Roman war es wahrscheinlich die Ada in Ghana im Jahr 1459. Mir war es ein Anliegen, irgendetwas zu schreiben, das vor dem Kolonialismus anfängt, zu zeigen, dass es ein Leben gab, bevor die Europäer angekommen sind.

Weiß man zu wenig über diese Zeit und die damaligen Gesellschaften?

Es gibt sehr viel Forschung dazu, zumindest in Großbritannien. Eine Sache, die ich bei meiner Recherchereise erfahren habe, war, dass in vorkolonialen Gesellschaften die Genderrollen nicht so festgelegt waren. Deshalb habe ich ganz am Anfang ein Ehepaar, das jetzt als lesbisch gelesen wird. Keine Ahnung, ob die lesbisch waren, aber die Rollen waren eben nicht so festgelegt auf männlich und weiblich. Es ging um Macht, darum, wer das Geld hatte, wer das Land hatte, wer etwas vererben hat können und wer nicht. Das Heterosexuelle und das Patriarchat kam erst mit den Missionaren.

Die vielen Frauen in Ihrem Roman erzeugen etwas, was es normalerweise nicht gibt: eine weibliche Perspektive auf die Geschichte...

Ja, mich hat das fasziniert: Wie könnte man Geschichte erzählen, wenn sie nicht aus der üblichen männlichen Helden-Sichtweise erzählt wird. Ich hatte meinen Spaß mit dem Eroberer Guilherme, der mit seinem Sonnenbrand zu kämpfen hat. Ich wollte aber keinen Roman schreiben, der gegen Männer ist. Aber es liest sich jetzt vielleicht so. (lacht)

Es gibt auch eine andere Perspektive, eine, die uns gar nicht möglich ist: die total objektive der Gegenstände, etwa ein Besen oder ein britischer Pass. Wie kamen Sie darauf?

Das geht auch zurück auf den Bachmannpreis-Text. Da ging es um ein Wesen, das ein Ei ist, das sich weigert, hart zu werden. Ich hatte in dem Text so viele Anspielungen, dass ich wusste, das werde ich irgendwann einmal erklären müssen, und so ist es zu dem Roman gekommen (lacht). Das sind eben keine Gegenstände, sondern ein Wesen, das geboren werden will und das in diese Gegenstände schlüpft. Wir Menschen nehmen uns viel zu ernst, setzen uns ins Zentrum von allem, dabei sind wir nur ein Teil von einem System, es gibt Tiere, Bäume und so viele andere Sachen.

Auch eine historische Ada kommt bei Ihnen vor, die Mathematikerin Ada Lovelace. Warum Sie?

Zunächst einfach nur, weil sie Ada heißt, um ehrlich zu sein. (lacht) Aber dann habe ich gelernt, wie wichtig sie für die Computer Science war. Und es hat auch wieder mit Geschichtsschreibung zu tun. Lange Zeit hat man nicht gewusst, dass es diese Frau gegeben hat und wie genial sie war, in ihrer Zeit wurde sie unterschätzt, es kam viel später raus, dass sie so wichtig war für die Entwicklung von Computern.

Sie vernetzen im Roman zwei Menschheitsverbrechen - Kolonialismus und Holocaust - mit einer gewissen Leichtigkeit. Dennoch - ist das kein heikles Unterfangen?

Ja, auf jeden Fall, alles rund um Nazideutschland ist ein Risiko gewesen. Warum ich das gemacht habe: Diese drei Orte - in Großbritannien bin ich aufgewachsen, in Deutschland meine Kinder, in Ghana meine Eltern -wollte ich in meinem ersten Roman in einer Person verbinden. Und ich wusste, dass ich eine Geschichte über Traumen und wie sie in der Gegenwart weiterwirken, schreiben wollte. Was hat das mit Individuen und mit Gesellschaften gemacht? Aus dieser Perspektive wäre es schwierig gewesen, die Shoa nicht zu thematisieren, das hätte eine Lücke hinterlassen.

Gibt es in Ghana eine Form der Trauma-Aufarbeitung, ist dort Black Lives Matter ein Thema?

Ich glaube, in Ghana gibt es Menschen, die sich mit dem Thema Kolonialismus auseinandersetzen und wie das zusammenhängt mit Welthandel und Staatsschulden - dass ehemalige kolonialisierte Länder immer noch europäischen Ländern so viel Geld schulden. Viele Leute wissen, dass es weiterhin Ungerechtigkeiten gibt. Im Gespräch mit meinen Cousins und Cousinen habe ich festgestellt, dass sie nicht so fokussiert sind auf weiße Norm, sie leben in einem Ort, in dem ohnehin alle wie sie aussehen. Ich weiß nicht einmal, ob sie sich selbst als Schwarz bezeichnen, sie brauchen dieses Vokabel eigentlich nicht. An meinem letzten Tag in Ghana habe ich zu meinem Cousin gesagt: "Ach, ich werde vermissen, dass im Fernsehen alle Schwarz sind." Ihm ist das wohl nie aufgefallen. Das ist etwas, was ich ihm auch schwer erklären kann, warum das so gut für mich ist, dass mal alle so aussehen wie ich.

Haben Sie im Literaturbetrieb Rassismus erlebt?

Ich rede ungern über rassistische Erfahrungen, wenn es individuell gehalten wird, weil dann ausgeblendet wird, dass es eine Struktur gibt. Es gibt einen Literaturbetrieb, der die Literatur von Schwarzen Menschen wenig wahrgenommen hat. Vor mir hat keine Schwarze am Bachmannpreis teilgenommen. Und oft höre ich, ja, es gibt nun mal nicht so viele Schwarze Menschen. Das ist ein Problem, weil wir keine Zahlen haben, um das nachvollziehen zu können. Ich würde liebend gern eine Statistik erstellen, wie viele Schwarze Menschen es gibt, wie viele Schwarze Schreibende es gibt und wie viele veröffentlicht werden. Das könnte man in Großbritannien oder den USA machen, dort gibt es solche Statistiken. Es gibt eine Gruppe, die Black Writers’ Guild, die geht mit diesen Informationen zu großen Verlagen. Bei uns in Deutschland gibt es das nicht. Ich gehe davon aus, dass die Tatsache, dass es nicht so viele Schwarze Schreibende gibt, kein vorsätzliches Handeln ist, dass jemand sagt, wir wollen da keine Schwarzen Schreibende. Denn alle sagen: Ich bin nicht rassistisch, nur das Talent zählt. O.k., wenn das stimmt, dann sagen wir eigentlich, Schwarze Menschen sind nicht so gut im Schreiben - das kann auch nicht sein.

Wie stehen Sie zur aktuellen Debatte, dass nur eine schwarze Frau das Inaugurationsgedicht von Amanda Gorman übersetzen dürfen soll?

Ich finde, für gewisse Themen, die nicht so oft im deutschsprachigen Raum verhandelt werden, ist es gut, eine Person zu finden, die in dem Thema drin ist. Ich bin auch angefragt worden, aber habe abgelehnt. Ich bin keine Übersetzerin, Deutsch ist nicht meine erste Sprache und ich komme nicht aus dem US-amerikanischen Umfeld, und das sind doch recht wichtige Punkte. Der Grund, warum ich angefragt wurde, war nur, dass ich eine Medienpräsenz habe, die wollten nur meinen Namen einkaufen. Ungeachtet dessen, wie gut ich bin. Und das hat mich sehr sauer gemacht. Warum nicht eine Person wählen, die tatsächlich übersetzen kann? Meine sehr liebe Freundin Miriam Nuenning, sie ist Schwarze Deutsche, sie kann übersetzen, kennt sich mit der Literatur von Menschen der afrikanischen Diaspora extrem gut aus, hat jahrelang in Washington D.C. gelebt, an der Howard University, also einer Historical Black University, studiert. Warum ist nicht sie als Erste angefragt worden? Das war eine vertane Chance. Wenn diese Menschen schon nicht die anderen Sachen übersetzen können, dann bitte wenigstens, wenn es um Frauen wie sie geht! Ich glaube, es ist nichts Verwerfliches daran, wenn es eine weiße Person übersetzt. Es ist ja schon passiert: Dieses Gedicht ist jetzt schon so oft übersetzt worden, allein in der "FAZ" zweimal. Das können doch alle übersetzen! Warum also nicht auch eine Schwarze Übersetzerin?

Wollen Sie für Ihr Buch auch nur eine schwarze Übersetzerin?

Mit meinem Roman sind wir in derselben Situation. Ich wollte erst am liebsten eine Schwarze Frau für die englischsprachige Übersetzung, aber die, die wir gefunden haben, konnten es aus verschiedenen Gründen nicht machen. Wir sind dann bei Jon Cho-Polizzi gelandet, er ist toll, allerdings ist er weder Schwarz, noch weiblich, noch aus Großbritannien. Er ist jüdisch-koreanisch-italienischer Herkunft. Was ich an ihm allerdings schätze, ist, dass er gut darin ist, zu verstehen, was ich meine. Und dennoch - langfristig wäre es gut, wenn die Branche noch vielfältiger wird.

Sie haben in Ihrer Rede zum Bachmannpreis im vorigen Jahr Toni Morrison erwähnt - ist sie ein Vorbild?

Ja. Sie hat das gemacht, was ich versuche zu machen, traumatische Themen angeschaut und literarisch so aufgearbeitet, dass es Kunst geworden ist. Wenn ich "Beloved" lese, dann bin ich immer wieder mit ihrer Sprache beschäftigt. Und sie hat als Lektorin gearbeitet und vielen anderen Möglichkeiten verschafft. Das mache ich mit meiner kleinen Buchreihe in dem Münsterischen Verlag, Edition Assemblage, auch. Weil ich das ernst nehme: Wenn wir eine Chance haben, dann sollen wir die Türe aufhalten, dass auch andere noch reinkommen können.

Sie sind in Großbritannien geboren, daher darf ich Sie fragen: Haben sie das Interview von Meghan und Harry verfolgt?

Man konnte ihm nicht entkommen. (lacht) Diese Bemerkung, wie dunkel ihr Kind sein werde - Schwarze Menschen, die weiße Familienmitglieder haben, kennen das. Ich war jetzt nicht überrascht, dass eine solche Bemerkung gemacht worden ist. Warum in der Royal Family nicht, warum sollen sie nicht genauso komische Sachen sagen wie alle anderen Menschen?