"Ich kenne Corona eigentlich nur aus den Medien", sagt Helme Heine (hier vor seinem Studio am Meer). - © privat
"Ich kenne Corona eigentlich nur aus den Medien", sagt Helme Heine (hier vor seinem Studio am Meer). - © privat

Sein großer Durchbruch war das Bilderbuch "Freunde" im Jahr 1982. Seither hat der am 4. April 1941 geborene Schriftsteller Helme Heine in diesem Genre eine Weltkarriere hingelegt - und zwar wortwörtlich. Der gebürtige Berliner hat schon in Südafrika, Irland und Japan gelebt, ehe er 1990 nach Neuseeland zog. Dort feiert er am Ostersonntag seinen 80. Geburtstag - und zwar ganz ohne Corona-Einschränkungen, wie er im Zoom-Interview erzählt.

"Wiener Zeitung": Als Sohn von Hoteliers haben Sie 13 verschiedene Schulen besucht, später in Südafrika, Japan und Irland gearbeitet, jetzt leben Sie in Neuseeland. Wie kam es dazu?

Zeichnen mit Blick auf die malerische Bay of Islands. - © privat
Zeichnen mit Blick auf die malerische Bay of Islands. - © privat

Helme Heine: Wir sind vor 30 Jahren hierher gekommen. Ich hatte davor zwei Jahre in Japan gearbeitet. Dort hatte ich mit meinen Bilderbüchern zwei Publikumspreise gewonnen, und dann kam die Anfrage der Fuji-Bank, ob ich für die Weltausstellung ein Musical über die Begegnung von Natur und Technik inszenieren möchte - Anreise in drei Tagen. Wir sind dann zwei Jahre geblieben. Und da wir den Pazifik noch nicht so kannten, haben wir uns umgeschaut und uns in Neuseeland verliebt. Da haben wir ein Grundstück gefunden für einen Betrag, um den wir in Wien gerade ein Studentenapartment bekommen hätten. Hier haben wir eine ganze Bucht. Wenn man lange in Afrika gelebt hat, misst man Grundstücke nicht mehr in Quadratmetern, sondern in Acre.

Warum überhaupt Südafrika?

Das war nach dem Studium. Damals war noch der Vietnam-Krieg, und wenn man da in die klassischen Auswanderungsländer USA, Australien oder Kanada gegangen wäre, wäre man in die Armee eingezogen worden. Das wollte ich aber nicht, und so bin ich für ein Jahr nach Südafrika gegangen. Da gab es noch Auswandererschiffe von Triest aus. Man ist durchs Mittelmeer und den Suezkanal bis nach Südafrika gefahren, das hat einige Wochen gedauert, und man hat dann nach der Ankunft so lange im Hotel gewohnt, bis man einen Job gefunden hat. Aus dem einen Jahr sind zwölf Jahre geworden. Ich habe Afrika so viel zu verdanken. Ich habe einmal Betriebswirtschaft studiert, aber in Afrika brauchten sie alles, Elektriker, Klempner - nur keine Betriebswirte. Ich habe dann in einer PR-Agentur angefangen und bin immer mehr auf die künstlerische Seite gerutscht, habe dann ein eigenes Theater gegründet, ein politisches, literarisches Kabarett namens "Sauerkraut" - abgeleitet vom englischen Begriff "Krauts" für uns Deutsche. Das war auf Deutsch, denn in Südafrika gab es allein in Johannesburg hunderttausend Deutschsprachige, da waren sehr viele geflüchtete Juden darunter. In Südafrika habe ich auch jeden Donnerstag Gäste in mein Farmhaus eingeladen, und jeder musste eine Geschichte mitbringen, die man frei erzählte. Mich hat das Erzählen schon als Kind geprägt. Mit meinen Eltern bin ich als Kind nicht nur dauernd umgezogen, sie hatten auch oft Künstler zu Gast, das hat mich sicher mitgeprägt. Und auf der Bühne in Johannesburg habe ich auch meine zweite Frau zum ersten Mal geküsst. Meine erste Frau ist in Südafrika geblieben, mit Kiki bin ich 1980 wieder nach Deutschland zurückgegangen und habe meine Karriere aufgebaut, bevor ich nach einem Jahrzehnt wieder erst für einen Arbeitsauftrag nach Irland und Japan dann nach Neuseeland gegangen bin.

Der Schriftsteller und Zeichner im Kreise seiner Bilderbuchhelden. - © Helme Heine
Der Schriftsteller und Zeichner im Kreise seiner Bilderbuchhelden. - © Helme Heine

Apropos "Sauerkraut": So hieß ja auch das tierische Dorf in einer ZDF-Zeichentrickserie in den 1990ern.

Ich wollte immer etwas anders machen als diese disneyhaften Filme und habe deshalb das Dorf "Sauerkraut" erfunden, mit einer eigenen Hymne: "O du mein schönes Heimatland, wo man das Sauerkraut erfand! Wir preisen dich und singen laut: Frieden, Freiheit, Sauerkraut! Volk der Dichter und der Denker, Volk der Richter und der Henker, hast beschenkt, beklaut - Frieden, Freiheit, Sauerkraut!"

Das klingt aber nicht unbedingt nach einem Stoff für Kinder.

Ja, das ist das Erstaunliche. Mein allererstes Buch "Elefanteneinmaleins" ist die Geschichte eines Elefanten, der jeden Morgen einen großen, runden Kloß legt. Und eines Morgens legt er zwei und ist glücklich, weil er weiß, dass er zwei Jahre alt geworden ist. Es wird jedes Jahr einer mehr, bis es eines Morgens 50 Klöße sind. Aber an seinem 51. Geburtstag legt er nur noch 49 Klöße, und er begreift: Er hat 50 Jahre lang zusammengezählt, und jetzt muss er 50 Jahre abziehen. Da gab es damals einen Aufstand: Das versteht doch kein Kind! Aber das Buch wird bis heute aufgelegt und verkauft - an Kinder und auch in Altenheimen, weil es im Grunde einen positiven Ausgang hat: Im Grunde genommen wird zum Schluss das Nichts, die Zahl Null begriffen. Viele Leute sagen: Bevor ich einen Roman schreibe, mache ich erst einmal ein Kinderbuch. Ich finde, es müsste umgekehrt sein.

Ein Kinderbuch ist also schwieriger?

Ja, zumindest nicht leichter. Besonders ein Bilderbuch ist ja kein Buch mit Bildern, sondern eine inszenierte Geschichte. Es ist im Grunde dem Film näher als der Belletristik. Darin liegt die ganze Kunstrichtung, deshalb sind bei bedeutenden Kinderbuchkünstlern Illustrator und Textautor in einer Hand. Meine Aufgabe ist ja nicht, im Bild das zu wiederholen, was ich im Text erzähle, sondern ich will zwischen den Zeilen illustrieren. Viel wichtiger als das Bild ist die Geschichte. In den ganzen Kritiken heißt es dann immer: Ach, das sind wo süße Bilder, so niedlich, so hübsch. Aber ich finde, die Geschichte ist wichtiger, so wie Sie ohne gutes Drehbuch keinen guten Film machen können. Und dann fängt erst das Casting an: Mit wem besetze ich es? Ich nehme nicht irgendeinen Bären, dem ich dann eine Geschichte anhänge. Ich muss mir genau überlegen, was ich machen will. Eine Figur, die sich verändern soll, kann zum Beispiel kein Eichhörnchen sein. Das muss entweder ein Mensch sein oder ein Bär, ein Frosch, ein Schmetterling - die machen eine Metamorphose durch. Und das Tolle ist: Kinder spüren so etwas instinktiv. Und da ein Bilderbuch ja nur sehr wenig Text hat, muss man sich die Besetzung umso genauer überlegen. In "Das schönste Ei der Welt" habe ich die ersten Miss-Wahlen verarbeitet. Da ist auch das Zwischen-den-Zeilen-Illustrieren sehr wichtig. Da streiten drei Hennen, wer die Schönste ist, und der König - ein Hahn mit goldenem Kamm - soll entscheiden, und als Politiker redet er doppelbödig: Es kommt auf die inneren Werte an. Da denkt man noch: Wunderbar - und dann sagt er: Wer das schönste Ei legt, wird Prinzessin. Also ist es im Grunde wieder materiell. Und während er das ausspricht, isst er Hühnchen. Alle Kinder sehen das. Und das ist diese Doppelbödigkeit, die ich mag.

Ein Selbstbildnis, gemalt im Jahr 2020. - © Helme Heine
Ein Selbstbildnis, gemalt im Jahr 2020. - © Helme Heine

Funktionieren Bilderbücher heute noch genauso wie in den 1980ern?

Die Kindheit ist ein in sich geschlossener Werdeprozess. Wenn immer behauptet wird, man könne nur für Kinder schreiben, wenn man das Kind in sich selbst erhält oder wiedererwacht - das mag zutreffen für Kinder nach der Einschulung. Aber trotzdem glaube ich, wenn Sie weltweit Erfolg haben wollen, müssen Sie glaubhafte elementare Geschichten erzählen. Was sich daran ändert? Ich wollte zum Beispiel einmal ein Buch über das Buch Genesis machen. Als ich jung war, haben wir über das Paradies gesprochen, und das sah aus wie die Karibik, mit Palmen und allem. Und mir taten da die Eisbären und die Pinguine leid. Heute sprechen wir über bedrohte Paradiese im Plural. Das verändert sich, darauf muss ich Rücksicht nehmen. Zweitens: Wie kann ich Gott besetzen? Als ich jung war, da sah Gott aus wie in der Sixtinischen Kapelle, mit langem weißem Hemd und Rauschebart - aber sagen die Kinder da nicht: Ach, der sieht ja aus wie Opa? Da habe ich lange gezögert. Auch bei der Evolution. Und dann war ich in Paris auf einer Monet-Ausstellung, dort sah man ihn im Kittel mit Strohhut. Und ich sagte zu Kiki, meiner Frau: Ich hab Gott gesehen. Ein alter Mann kann immer noch kreativ sein, er kann immer noch eine Evolution auslösen. In meinem Bilderbuch sieht man dann auch die ausrangierten Stücke, etwa die Dinosaurier. Aber ich mag Bücher mit Altersbegrenzungen nicht. Ich glaube, ein gutes Kinderbuch richtet sich nicht nach einem Lebensalter. "Tom Sawyer" etwa ist ein Kinderbuch - und Weltliteratur.

Ihr berühmtestes Buch ist "Freunde" - ist es auch Ihr liebstes eigenes Buch?

Ich mache nur die Bücher, die ich mir selber kaufen würde. "Freunde" hat mir jedenfalls die finanzielle Freiheit gegeben, Dinge zu tun, die ich tun möchte. Ich mag auch "Der Club" sehr. Mit dem Buch bin ich lange schwanger gegangen. Es ist auch nicht so bekannt geworden, obwohl ich ein Buch für Kinder über Körper, Seele und Geist machen wollte: Professor Kopf, der Geist, sitzt im Dachgeschoß, im ersten Stock links sitzt Rosi Herz, die Seele, und Dick Bauch, ein Koch, sorgt sich um den Körper. Damit konnte ich ganz ernsthafte und komplizierte Dinge einfach erklären, ohne erhobenen Zeigefinger. Nichts hassen die Kinder mehr, als wenn man versucht, Botschaften mitzuteilen.

Soll ein Kinderbuch also in erster Linie unterhalten?

Da zitiere ich Gotthold Ephraim Lessing: Primäre Aufgabe der Kunst, ist immer wieder zu unterhalten. Sie darf auf keinen Fall versuchen, belehrend zu sein. Sonst ist es wie in der Sowjetunion oder in China, wo die Kunst immer einen gewissen Beigeschmack hat. Aber es muss etwas sein, das weltweit verstanden wird. Nehmen wir "Freunde": Das ist kein Buch über Abenteuer - da gibt es Millionen Bücher. Sondern ich wollte ein Buch über Freundschaften machen. Da habe ich überlegt: Einer ist ein Narzisst; zwei sind zu wenig, um auch die Schattenseiten zu zeigen; also muss ich drei nehmen. Was können die drei nun gemeinsam machen, was sie alleine nicht schaffen? Da fiel mir das Radfahren ein. Franz von Hahn lenkt, der dicke Waldemar, das Schwein, tritt in die Pedale, und Johnny Mauser hält die Balance. Das versteht jedes Kind auf der Welt, auch wenn es noch nicht lesen kann. Ohne diesen Hintergrund wäre das Buch nie erfolgreich gewesen.

Gibt es ein Buchprojekt, das Sie aufgegeben haben?

Ja, das gibt es. Im Moment hänge ich mit einem Roman fest. Bei den Bilderbüchern wollte ich eines über die Jahreszeiten machen, da geht auch nichts weiter. Aber das spielt keine Rolle, irgendwann wird ein zündender Gedanke kommen. Man braucht immer eine Grundidee.

Ein Ostergruß von Helme Heine. - © Helme Heine
Ein Ostergruß von Helme Heine. - © Helme Heine

Arbeiten Sie mit fast 80 Jahren noch, weil Sie müssen, weil Sie wollen oder weil Sie nicht anders können?

Im Grunde genommen alles drei. Ich habe so viele schöne Themen, die ich gerne noch machen würde. Und es ist so herrlich, ich habe hier am Meer ein schönes Studio mit Blick auf den Pazifik, da freue ich mich jeden Morgen wie ein Kind darauf, dort zu malen, zu schreiben, nachzudenken. Ich bin also sehr glücklich hier in Neuseeland. Aber hier wie auch in Afrika gilt: Sie bleiben Europäer. Ich träume davon, wieder nach Europa kommen zu können, in Salzburg, München, Wien wieder Museen, Theater und Konzerte zu besuchen. Da sammle ich auch immer neue Ideen.

Aber momentan sind Sie sicher froh, Ihren Geburtstag in Neuseeland feiern zu können angesichts der Lockdowns in Europa.

Ja, ich habe in mein Studio eingeladen, da werden an die 30 Leute kommen. Man wird feiern, und es hat sich im Grunde nichts verändert. Ich kenne Corona eigentlich nur aus den Medien. Hinzu kommt, dass ich sehr gerne segle und angle. Hier in Neuseeland hat ja fast jeder sein eigenes Boot. Und das Ganze so, wie ich es mir in Europa nie leisten könnte.

Wie erklären Sie die niedrigen Corona-Zahlen in Neuseeland?

Zum einen ist es die Insel. Aber die Politik hier war und ist auch unglaublich strikt. Zu Anfang sind ein knappes Dutzend Fälle ins Land gekommen, da gab es einen Riesen-Aufschrei, und die Regierung hat dem Militär die Aufgabe gegeben, die Flughäfen zu überwachen. Seither darf nur eine ganz begrenzte Anzahl ins Land, wie in die Hotels passt, die als Lockdown-Center fungieren. Dorthin kommt man vom Flughafen direkt in Quarantäne, bevor man nach zwei Wochen raus darf. Das ist fast brutal durchgezogen worden.

Und diese Politik funktioniert?

Die Neuseeländer finden das sehr gut. Sie würden natürlich gerne auch nach Australien reisen. Aber sie sehen natürlich auch, dass sie gar nicht die Kapazitäten in den Krankenhäusern hätten. Man muss freilich bedenken, dass wir hier nur fünf Millionen Einwohner auf einer Fläche haben die etwas größer ist als Großbritannien.

Was unterscheidet die neuseeländische Gesellschaft und Kultur von der mitteleuropäischen?

Einen großen Unterschied gibt es beim Zeitbegriff: Neuseeländer leben viel intensiver im Jetzt. Was heute passiert, ist wichtig, über morgen reden wir morgen. In Europa denkt man immer nur über morgen nach: Wie wird das mit der Pension, wie entwickelt sich die Wirtschaft? Und Afrika denkt nur im Gestern: Was weiß ich, was morgen ist, da ist wer anderer an der Macht, ein neuer Krieg. Also muss ich im Jetzt leben. Aber die wissen: Wenn ich sage jetzt, dann ist das eigentlich schon wieder Vergangenheit. Und das merken Sie auch im Alltag. Ich hatte in Johannesburg einen jungen Gärtner, den habe ich einmal vor dem Einkaufen gefragt: "Brauchst du etwas?" Und er sagte: "Ich habe genug." Und am Abend kam er an, weil ihm der Zucker ausgegangen war. Und warum hatte er das nicht zu Mittag gesagt? "Da hatte ich noch." Das ist zutiefst afrikanisches Denken - oder zumindest war es das vor 40 Jahren.

Leben Ihre Kinder und Enkel auch in Neuseeland?

Nein, leider, die sind alle in Europa. Mein Sohn ist in Leipzig, meine Tochter lebt in Basel. Wahrscheinlich werden wir uns zwei Jahre lang nicht sehen. Kiki und ich sind also zu zweit hier in Neuseeland. Aber man fühlt sich hier nie allein. Unser Wohnort Russel in der Bay of Islands hat nur 800 Einwohner, und einer meiner Nachbarn war Friedensreich Hundertwasser. Hier leben Menschen aus aller Herren Länder, ein ganz bunt gewürfelter Haufen. Das merken Sie auch, wenn Sie herziehen. Auf der Baustelle tauchen plötzlich Nachbarn mit Tee und Kuchen auf, während man in Deutschland eher hinterm Vorhang gucken würde, wer denn da einzieht. Man geht hier aufeinander zu.

Gibt es ein Thema, das Sie unbedingt noch bearbeiten wollen?

Ein Thema, wo ich noch den richtigen Aufhänger suche, ist die Welt und der Mensch, unser Verhältnis zum Tier. So nach dem Motto Noah und Co. Auch das Verhältnis Mann/Frau würde ich gerne mit dem britischen Humor grafisch angehen. Darüber denke ich zur Zeit nach. Das wird sicher die nächsten zwei, drei, vier Jahre dauern.•