Rebekka Kricheldorf gehört zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Dramatikerinnen, mehrmals wurde sie für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert, so auch 2021 mit ihrer Aschenputtel-Adaption "Der goldene Schwanz". In ihrem ersten Roman folgt sie Larissa, diese ist Anfang 20 und flieht aus der Provinz in die Hauptstadt Berlin. Es sind die 90er Jahre, die Stadt hat sich gerade leidlich wiedervereinigt, und die "Generation Lustprinzip" richtet sich in den entstandenen Freiräumen ein.
Kricheldorf setzt in ihrem Roman dem Berlin von damals ein Denkmal. Diesem "Sonderort für sonderbare Sondermenschen", wie es einmal heißt. Ein Jahr lang, von Winter zu Winter, schubst sie ihre triebgesteuerte Ich-Erzählerin von Bar zu Bar und von Niederlage zu Niederlage. Atemlos, fiebrig und mit dem Drive der Zeitform Präsens bewegt sich Larissa durch eine Stadt und ein Leben, in dem es egal ist, ob es 8 Uhr abends oder 8 Uhr morgens ist.
Ziellos hedonistisch
Im Grunde genommen möchte Larissa ohnehin nur lesen, doch sie rafft sich immer wieder auf: zum Kiffen, Koksen, Fröhlichsein. Dazwischen gibt es jede Menge Sex, sehr oft allein, sogenannter Solosex, und oft zu zweit, mit Männern ihrer Wahl und Qual, denen sie sich schon mal unterwirft. 50 Shades of Grey? Nun ja, in diesem Falle eher die Grauheit Berlins.

Kricheldorf inszeniert ein gleichzeitig typisches und seltsames Frauenleben in ebenso bunten wie dunklen, immer aber realitätsgesättigten Episoden. Larissa teilt sich die Wohnung mit Lily, die sich zeitweise beim Theaterregisseur Christoph Schlingensief verdingt. Immer wieder streift der Roman das Kulturleben: Christo und Jeanne-Claude verhüllen den Reichstag, Michel Houellebecq liest im Literarischen Colloquium am Wannsee, der Film "Pulp Fiction" kommt ins Kino. Dazu werden haufenweise Bücher zitiert, von Allen Ginsberg über Philippe Djian bis zu Jörg Fauser. Die Kunstwelt dient als stabiles Referenzsystem, und irgendwo zwischen Joseph von Eichendorff und Quentin Tarantino verorten sich Roman und Hauptfigur. Dabei wirkt die Erzählerin, als stehe sie am Tresen und rede drauflos. Umgangssprache und Slang durchziehen ihre Sätze. Man hört ihr irrsinnig gern zu, weil sie nicht doof ist und komisch dazu.
Larissas Weg kreuzen viele kaputte Typen und noch mehr gescheite Loser. Taugenichtse. Larissa ist auch so eine, kein Geld in der Tasche, nicht den geringsten Antrieb, sich als Studentin zu etablieren, und doch belesen und kulturell bewandert. Es sind die guten alten "Haste-mal-ne-Mark"-Zeiten, in denen man noch Klapse statt Psychiatrie sagte und No-Future eine passable Zukunftsaussicht schien.
Gestus und Tonfall erinnern an Stefanie Sargnagels Jugenderinnerungen "Dicht", die ebenso unverfroren und unmädchenhaft daherkommen. Ums Frausein und um breitbeinigen Feminismus geht es auch bei Kricheldorf. Der Ex-Plattenladenbesitzer Vernon Subutex von Virginie Despentes kommt einem ebenfalls in den Sinn.
Lebensgefühl Techno
Musik spielt in "Lustprinzip" eine tragende Rolle, Stichwort Techno: Was die Improvisationen des Jazz für die Literatur der Beat Generation waren, ist Techno für die Generation Lustprinzip. Dabei versteht es Kricheldorf herrlich, das damalige Lebensgefühl zu beschwören.
Immer wieder durchkreuzt der Roman die Aufgekratztheit seiner Figuren mit triftiger Melancholie. Es lauert die Frage nach dem gelingenden Leben. Das Prinzip Lust trifft dann auf das Prinzip Wirklichkeit. Von der gewissen Stumpfheit, die es braucht, um das Leben zu meistern, erzählt der Roman wie nebenbei. Kricheldorf bündelt unterschiedliche Befindlichkeiten und bettet sie in einen rauschhaften Berlin-Roman. Heraus kommt eine rasante Liebeserklärung an eine großartig verkorkste Stadt.