Früher waren österreichische Romane über die Provinz Selbstgeißelungen, Protokolle tief verletzter Seelen, Aufzeichnungen über die Verheerungen einer ärmlichen, tristen, stumpfen Kindheit, über Grausamkeiten und sadistische Täter, saturierten Konservatismus und selbstgerechte Bigotterie.
Heute gibt es die "Provinz" im Grunde nicht mehr. Ein Autobahnanschluss ist nirgends unerreichbar, TV-Kanäle sind so zahlreich wie unüberschaubar und selbst entlang Tiroler Hochalpenstraßen gibt es WLAN. Hat die globale Provinz überhaupt noch Eigenschaften? Antwort: nein. Und das zeigt "Morituri", das jüngste Prosawerk der gebürtigen Grazerin und studierten Physikerin Olga Flor, grell, scharf und, entgegen dem bunten Schutzumschlag, schwarzböse auf. Nur noch Spurenelemente von Idylle und geruhsamem Leben im stillen Abseits sind vorhanden.
Obskure Geschäfte
Mit großer Rasanz und einer dramaturgisch raffiniert geschnittenen Kakophonie von Stimmen lässt Flor eine Gemeinde, Niedermoor geheißen, Einwohnerzahl: 3.487, Tendenz sinkend, vor sich hinplappern. Da ist Maximilian, ein Mittfünfziger, der nicht "ausgestiegen" ist aus dem Angestelltendasein, sondern eher abgedankt hat, in einem Bungalow lebt, sich mit Hühner- und Bienenzucht durchbringt, ein hehrer Naiver. Da ist seine Tochter, die dem Rattenrennen in der Wirtschaft Adé sagt und, ausgerechnet, in den Lokaljournalismus einsteigt. Da ist eine abgefeimte Redenschreiberin, die in Management-Neusprech, halb Deutsch, halb falsches Englisch, glanzvoll Propaganda in die Welt streut. Da ist in diesem Panoptikum des grellen Schreckens die umtriebige, zielstrebige Bürgermeisterin und Gasthauswirtin, dazu eine Jungbauunternehmerin mitsamt ihrem unnützen Gespons.

Unternehmerin und Bürgermeisterin wollen ein medizinisches Forschungszentrum in den Ort locken. Die Finanziers im Hintergrund: obskure Russen aus dem Dunstkreis ihres Präsidenten, deren Geldflüsse noch obskurer über das Steuerparadies Malta laufen, dazu Landesbanken, die aufs Engste mit Parteien verbunden sind. In dieser Einrichtung, "Good Life Center" getauft, soll der Jungbrunnen wiedererstehen. "Parabiose" nennt sich dieser Vorgang, in dem ein Mensch nicht mit einer Maschine verbunden oder mit technologischen Elementen verquickt wird, sondern - als MenschMensch - mit einem anderen. Ein junger mit einem älteren, damit Letzterer wieder juvenil wird.
Natürlich funktioniert dies nicht, natürlich dient alles der Geldwäsche. Im großen Finale inklusive abstrus realistischer Elemente - tatsächlich taucht der russische Präsident auf, und die Bürgermeisterin knickst betört - und bedenklich schwarzhumoriger Einsprengsel - ein überforderter Selbstmordattentäter scheitert partiell - versinkt alles im Moor. "Da wird dieses größenwahnsinnige Kleinkaiserreich auf das zurückgestutzt, was es ist, schrieb Ruth: ein Land mit dem Hang zur pornoästhetischen Schmierenkomödie, die sich nicht einmal selbst ernst nimmt."
Smarte Phrasen
Diese Prosa zu schreiben über Korruption, Täuschung und Selbsttäuschung, Debilität und Verwesung bei lebendigem Leibe, vor allem aber über die pseudokosmopolitische Schändung der Sprache - denn nicht selten lustig bis zur Schmerzgrenze des Zwerchfells sind jene Passagen, in denen in gänzlicher Gedankenlosigkeit ein mittlerweise allzu geläufiges Vokabular benutzt wird -, muss Olga Flor großes Vergnügen bereitet haben. So heißt es an einer Stelle, an der abgesprochen wird, wie Bau- und Umweltvorschriften ausgehebelt werden können, es gäbe "da ein neues prächtiges Gesetzes-Tool in Österreich in Form von Verschleppung, bei Verschleppung der Einspruchsbehandlung automatische Genehmigung des Projekts, kicking this ball down the road habe dem part of the game eine neue Qualität hinzugefügt ..."
Und ist das noch ein weiterer versteckter, dafür einschlägig ironischer Insiderscherz, dass, während der Seelenausdeuter Sigmund Freud seine "Traumdeutung" einst vordatierte auf das Jahr 1900, Flors Land-und-Seelen-Durchleuchtungsroman im Copyright zurückdatiert wird auf das Jahr 2020?