
Man ist immer nur so gut wie das Beste, das man erreicht hat", soll Billy Wilder einmal gesagt haben. In dem neuen Roman "Mr. Wilder & ich" (Folio) steht der legendäre Filmregisseur an einem Punkt in seinem Leben, an dem sich die Frage stellt, ob er tatsächlich das Beste schon erschaffen hat - und vielleicht nichts Besseres mehr nachkommt. Schriftsteller Jonathan Coe begleitet ihn an das Set seines vorletzten Films "Fedora", mit dabei ist eine junge Griechin. Calista, die Wilder bei einem Trip nach Hollywood kennengelernt hat, ist das erzählerische Mittel zum Zweck: Sie und ihre Freundin befragt Wilder bei einem Dinner danach, was junge Menschen jetzt so im Kino bevorzugen. Unterbrochen wird das Gespräch immer wieder von Fans, die Wilder von seinen Filmen vorschwärmen - "Manche mögens heiß", "Das Apartment". Streifen, die ohne Zweifel zu den besten der Filmgeschichte gehören, die aber zum Zeitpunkt dieses Essens 15 Jahre alt waren. 15 Jahre, in denen Wilder ja auch Filme gedreht hat. Er und Autor-Kompagnon Iz Diamond behandeln diese ambivalenten Komplimente mit Galgenhumor. Es wird deutlich, dass den beiden die Konkurrenz durch das "neue Hollywood" eines Steven Spielberg oder Francis Ford Coppola, die Erzählweisen in den 70ern umkrempelten, schmerzlich bewusst ist und sie den Anschluss bewahren wollen. Bei den Dreharbeiten zu "Fedora" auf der Insel Madouri setzt Wilder Calista dann als Dolmetscherin ein. Der dritte Teil führt den ganzen Filmtross nach Deutschland, wo der Exil-Österreicher Wilder von seiner Zeit als US-Kulturoffizier erzählt, als er Entnazifizierungs-Aufklärungsfilme produzierte. In jedem KZ-Leichenberg suchte er seine Mutter.
Es ist ganz erbaulich, in diesem Roman eine so prägende, charismatische Figur, von der sich die Welt 2002 verabschieden musste, wiederzutreffen. Und es hat auch seinen Reiz, den als selbstbewussten Macher mit Zigarre im Mund bekannten Mann auch als unsicher kennenzulernen. Leider ist Coes Roman aber gar papieren geraten, ausgerechnet bei einem Protagonisten, der es wie kaum ein anderer beherrschte, wie man gute Geschichten erzählt, schade drum.
Dokumente und Erfindung
Immer wieder werden real existierende Personen von Schriftstellern in fiktive Welten gesetzt. Auffallend häufig stößt dies Filmschaffenden zu - möglicherweise, weil diese schon aus einem Universum kommen, das vermeintlich der Fantasie am nächsten ist. Joyce Carol Oates zeigt, dass man das Papier auch mit sinnlichem Leben füllen kann. Sie hat in ihrem Roman "Blond" Marilyn Monroe zur fiktiven Figur gemacht. Das Buch dürfe man keinesfalls als Biografie lesen, es sei eine literarische Verdichtung, betont die Schriftstellerin. Weil Oates aber mit ihrer Fiktion immer nur so weit von der biografischen Historie entfernt ist wie ein weißer Plisseerock vom nächsten U-Bahnschacht-Luftzug, erfährt man in diesem 1.000-Seiten-Opus vielleicht sogar mehr über die Monroe - oder eben hier Norma Jeane Baker - als in herkömmlichen Memoiren. Eine Frau mit zerrütteter Kindheit (Mutter in der Psychiatrie), die in verschiedenen Heimen aufgewachsen ist, eine Frau, die ihre Identität einer neuen, von Studiobossen erfundenen Persona opferte, eine Künstlerin, die verzweifelt ums Ernstgenommenwerden kämpft, eine Frau, die sich ihrer (nicht nur) erotischen Wirkung als Archetyp der Blonden mehr als bewusst ist. Manchmal arbeitet Oates auch mit echten Dokumenten, etwa um zu zeigen, dass für die Charakterisierung einer Frau in der McCarthy-Ära schon eine Liste reicht: jene, die das FBI über die Sexualpartner der Monroe angelegt hat.
Apropos: Oates saugt einen in ein Sündenpfuhl namens Hollywood hinein und man lernt ganz nebenbei so einiges über die Gepflogenheiten des alten Hollywoods. Der sexualisierte Machtmissbrauch des Harvey Weinstein kann niemand überrascht haben, der diesen teilweise am Porno entlangschrammenden Roman gelesen hat. Heuer wurde "Blond" neu aufgelegt (Ecco-Verlag) und dass Oates minutiöses Verschachteln und Montieren von Wahrem, Wahrgeglaubtem und Erfundenem genial ist, zeigt, dass die erneute Lektüre undenkbar macht, dass der Roman 20 Jahre alt ist.
Stan ohne Ollie
Eine ähnliche Taktik wendet John Connolly bei seinem biografischen Roman "Stan" (Rowohlt) an. Er nähert sich darin dem Komiker Stan Laurel an. Laurel war die eine Hälfte von Laurel & Hardy bzw. Stan & Ollie (Menschen hierzulande, die mit Herbert Prikopas "Sachen zum Lachen" aufwuchsen, kennen das ungleiche Duo unter dem despektierlicheren Namen "Dick & Doof"). Und das ist auch der Ausgangspunkt von Connollys Roman: Man kennt diese beiden Schauspieler nicht als Einzelpersonen, der eine Namen bedingt den anderen. Das ist freilich nicht nur die Außensicht gewesen. Stan Laurel beendete sein öffentliches Leben nach dem Tod von Oliver Hardy. "Er ist nie wieder im Fernsehen aufgetreten, hat keine Interviews mehr gegeben, und als ihm ein Ehren-Oscar zugesprochen wurde, hat er gesagt, er sei krank und hat sich geweigert, hinzugehen", erzählt Connolly. Der Ire entwirft in "Stan" nicht nur ein aufmerksames Pastiche einer Freundschaft, die viel mehr ist als eine Arbeitsgemeinschaft. In der freilich ergänzen sich die beiden hervorragend: Laurel ist der kreative Kopf, der die Gags schreibt und - vom Vaudeville-Kabarett kommend - den körperlichen Humor perfekt einsetzt, Hardy ist der begabte Schauspieler, der mit einem Brauenheben schon Lachstürme erzeugen kann. Aus dem Reich der Fantasie oder dem der nicht unwahrscheinlichen Spekulation kommt das Konkurrenzgefühl Laurels zu Charlie Chaplin. Gemeinsam starteten sie ihre Karriere, aber Chaplin hob schneller ab und gilt nach wie vor als überlegenerer Komikkünstler.
Besessener Dickens
Überraschend häufig ist in solchen biografischen Dichtungen Charles Dickens zu Gast. Eine davon ist "Drood" von Dan Simmons (Heyne). Der normalerweise für Horror bekannte Autor verschränkt hier - durchaus auch mit Schreckenselementen - die letzten fünf Lebensjahre von Dickens mit dessen unvollendet gebliebener Kriminalgeschichte "Das Geheimnis des Edwin Drood". Nachdem Dickens ein Zugunglück überlebt hat (Tatsache, beim Eisenbahnunfall von Staplehurst 1865 stürzte eine Brücke unter einem fahrenden Zug, in dem auch Dickens fuhr, ein, es gab 10 Tote und dutzende Verletzte), ist er besessen von einem Wesen namens Drood, das ihm während des Unglücks begegnet ist. Das ist nicht genug der biografischen Eingriffe: Die Geschichte wird erzählt von Wilkie Collins, einem viktorianischen Schriftstellerkollegen und Freund von Dickens - und das passt, schrieb der doch die ersten Mystery-Thriller. "Drood" ist mit seinen 900 Seiten auch ein Ungeheuer, aber eins, das Dickens wohl gefallen hätte. Völlig ohne Fantasybrimborium widmet sich Colm Toibin einem anderen Schriftsteller in "Porträt des Meisters in mittleren Jahren" (Carl Hanser). Er begleitet Henry James vom Theatermisserfolg ins Exil aus England, wo er schließlich seine großen Meisterwerke zustande bringt.
Im Vergleich zu dieser eingehenden Darstellung hat Bob Marley in "Eine kurze Geschichte von sieben Morden" (Heyne) nur einen Gastauftritt. In dem packenden Roman zeichnet Marlon James ausgehend von einem Überfall im Haus des Reggaemusikers ein Bild vom drogenkorruptionsgebeutelten Jamaika der 70er.
Auf die Spitze getrieben hat diese Erzähltechnik wohl James Lever im Roman "Me, Cheeta" (nur englisch, Fourth Estate). Hier verschlägt es einen wieder einmal nach Hollywood, der Autor kennt sie alle, Rex Harrison, Johnny Weissmueller, Marlene Dietrich. Und er ist einer von ihnen, nur halt - ein Affe. Denn Cheeta, der die abgedrehte Geschichte erzählt, ist bekanntlich der berühmte Schimpanse aus den Tarzan-Filmen.