"Und also, ein für allemal, / Der Lingam ist mir ganz fatal."
Der Dichter dieses gemächtlichen Zweizeilers ist . . .
Halt! - "Unfair" geschrien! Man(n) kann doch nicht ein Genie an seinen ungenialsten Hervorbringungen messen! Es geht doch darum, dass einige wenige den Pegasus reiten, ein paar mehr ihn striegeln, die meisten indessen seine Äpfel aufklauben. Wenn nun ein Pagasus-Reiter ein Mal (zugegeben: einige Male) auch die Hinterlassenschaften seines Rosses einsammelt, kann ihm das doch nicht vorgeworfen werden. Oder?
Schmetterlings Rastplatz
Zumal es am heutigen Tag der schlechten Gedichte richtig Spaß macht, sich wie ein Schmetterling auf den Äpfeln des Flügelrosses niederzulassen - und vielleicht gleich einmal einen eigenen Gedichtversuch unternehmen. Kein Thema zur Hand? Also eine knifflige Aufgabe stellen: ein Gedicht mit "Mensch" als Reimwort.
Aber ja nicht in Willy Steputats "Reimlexikon" nachschlagen!
Bis sich der Vers gestaltet, kann man, sozusagen tagesaktuell, der Frage nachgehen, was denn nun ein schlechtes Gedicht ausmacht. Denn es ist bei Gedichten wie bei allen anderen künstlerischen Vorkommnissen: Gut und schlecht sind Kriterien, über die man trefflich streiten kann, ohne je zu einem Schluss zu kommen.
Zum Beispiel: Sagt einer, zwei plus drei ergäbe acht, dann hat er entweder einen Rechenfehler gemacht, oder er ist ein Querdenker, was in Sachen intellektueller Leistung in etwa auf das Gleiche hinauskommt.
Aber was ist mit Rainer Maria Rilkes "Herbsttag" ("Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß" - einfach googeln, der Text ist ununauffindbar)? - Ist doch ein Meisterwerk! Steht es immer noch in den Schulbüchern als Beispiel für Lyrik in ihrer Vollendung? An solch einer makellosen Schöpfung kann keiner herumkritteln.
Weit gefehlt! Der österreichische Schriftsteller und Kritiker Hans Weigel nahm den "Herbsttag" auseinander, bis kein Sprachbild mehr einen Sinn ergab.
Weigels Leistung ist brillant - und brillant unsinnig zugleich. Weil Lyrik nur zu einem Teil Verstandessache ist. Der Rest ist sinnliche Wahrnehmung. Das Heraufbeschwören von Bildern, von Atmosphäre, von, ja, sagen wirs kitschig: Gefühlen, das ist das eigentliche Metier des Dichters. Rilke schafft Bild um Bild. Gewiss: "Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr" - da mag man fragen: Warum nicht? Endet die Bausaison Mitte September? Kann man nicht auch Anfang Dezember noch ein Haus bauen? Und man kann bemängeln, dass "baut sich keines mehr" schlampiges Deutsch ist, das der Lehrer zumindest rot unterwellen würde, käme es in einer Hausübung oder Schularbeit vor.
Geschenkt.
Dieses Rilke-Gedicht mit dem Verstand und der Deutsch-Grammatik in der Hand zu lesen, bringt einen lediglich um das sinnliche Vergnügen. Ein gutes Gedicht? - Ein gutes Gedicht.
Damit zurück zu den schlechten Gedichten.
Und zwar zu den wirklich schlechten, nicht zu den mittelmäßigen à la Börries von Münchhausen, Hugo von Hofmannsthal, Rudolf Hagelstange oder Erich Fried.
Naturgemäß kann man darüber disputieren, welche Kriterien ein wirklich schlechtes Gedicht ausmachen. Letzten Endes wird man sich wohl auf zwei Kriterien einigen: Gedankliches Versagen muss auf sprachliches Versagen treffen.
Ein dritter Punkt ist eine sehr individuelle Forderung: Schlechte Gedichte gibt es zuhauf (man blättere in den Illustrierten nach der Rubrik "Das schönste Leser-Gedicht"), aber ein wirklich schlechtes Gedicht muss von einem bedeutenden Dichter stammen. Denn nur dann ist das Gefälle von (erwartbarem) Geniestreich und (tatsächlichem) Mist groß genug.
Große bauen großen Mist
Anders gesagt: Friederike Kemp-
ner dichtete zwar einzigartigen Pofel (ein Höhepunkt ist, wenn sie über den Paris der griechischen Mythologie reimt: "Ihr wißt wohl, wen ich meine / Die Stadt liegt an der Seine"), aber so ist die Kempner eben. Das ist ihr Niveau. Sie konnte es nicht besser.
Wenn aber eine gepriesene Dichterin wie Ingeborg Bachmann schreibt: "Auch wenn das Schiff hart stampft / und einen unsicheren Schritt tut, / steh ruhig auf Deck", dann ist das etwas anderes. Das stampfende Schiff, das unsicher vorangeht, kombiniert nicht etwa mit dem Rat, sich an der Reling festzuhalten, sondern ruhig an Deck zu stehen (während die Kaventsmänner das Schiff in 45-Grad-Schräglage bringen), ist eine so grandiose Fehlleistung, wie sie nur dichterisch Hochbegabten möglich ist - dann nämlich, wenn sich in ihrem Kopf Bilder abspielen, die sie sprachlich nicht meistern.
Hermann Hesse hingegen scheint es wie das Wiesel Christian Morgensterns zu machen: Reimen um des Reimes willen: "Drum ist kein Wissen, noch Können so gut, / Als dass man alles Schwere nicht alleine tut." Einfach hinreißender Quatsch ist das!
Selbst Johann Wolfgang von Goethe . . . Also, der eingangs zitierte Lingam-Vers - er ist von ihm. Und Goethe hat noch weit mehr Müll geschrieben - aber, und das macht den Unterschied: auch "Wanderers Nachtlied", auch den "Erlkönig", auch ... Man kann gar nicht alles Wunderbare von ihm aufzählen!
Das Verhältnis machts aus
Das Verhältnis machts aus: Bei Goethe ist genug Weizen da, dass die Spreu kaum ins Gewicht fällt. Bei Hesse wird es dünner. Und mit der Bachmann lassen sich nur noch Vollkornbrote backen. Gesund für die Moral mag das sein, nur ob es große Dichtung ist, das sei überprüft.
Wenn freilich sogar die Allergrößten allergrößten Unfug schreiben, dann kann man selbst ganz beruhigt ans eigene Gedicht gehen. Wer weiß - besser als Goethe ("Sage mir keiner: / Hier soll ich hausen! / Hier, mehr als draußen, / Bin ich alleiner") - das sollte zu schaffen sein, wenn man die Latte nicht ausgerechnet in die Höhe der "Mitternacht" ("Um Mitternacht ging ich, nicht eben gerne") legt.
Wie war das mit der Aufgabe, "Mensch" als Reimwort zu verwenden? Unmöglich, weil es auf "Mensch" keinen Reim gibt?
Abwarten! - "Auf ,Mensch / gibt es keinen Reim? / Da will der Lampensch- / irm gepriesen sein!"
Glorreicher Tag der schlechten Gedichte! Möge er niemanden abhalten, gute zu lesen oder gar, sie selbst zu schreiben!