Heinz, ein Schauspieler norwegisch-österreichischer Abstammung, Jahrgang 1942, erinnert sich an eine Szene, die er kürzlich in einer Verfilmung des Lebens von Pfarrer Otto Neururer (1882-1940) zu spielen hatte. Es ging ums Beten, und zwar darum, dass sich die Vaterfigur an der Art und Weise des Betens seines Sohnes stört und von dem Jungen verlangt, einzig an den Führer zu glauben, mit ganzer Seele, denn nur so könne er erlöst werden.
"Das aber hat mein Stiefvater nicht gemacht. Für den habe ich gar nicht existiert. Außer, wenn ihm beim Schlachten zu helfen war, da war ich wichtig für ihn, in der Waschküche unten im Keller, darüber hinaus hat der sich mit mir nicht abgegeben. Und das machte es schwierig für mich, beim Drehen, denn es hieß ja, ich spiele mich selbst. Immer wieder war von meinem Vater die Rede. Ich habe ja keinen gehabt, keinen Vater. Dass mich irgendein Vater gestreichelt hätte jemals, und das macht der Vater vom Heinz in dieser Szene, das hat es bei mir nicht gegeben."
Die zitierte Textpassage findet sich gegen Ende von Alois Hotschnigs jüngstem Roman "Der Silberfuchs meiner Mutter". Auf den ersten Blick fällt die Zuordnung leicht: Im Jänner 2020 kam "Otto Neururer - Hoffnungsvolle Finsternis" (Regie: Hermann Weiskopf) in die Kinos. Die Nebenrolle des Heinz darin spielt besagter Heinz Fitz. Und um letzte Zweifel zu zerstreuen, lesen wir in der Danksagung: "Dieses Buch gäbe es nicht ohne die Begegnung mit dem Schauspieler Heinz Fitz, der es mir erlaubt hat, entlang seiner Lebens-Geschichte diesen Roman frei zu entwickeln."
Eigene Identität
Aufgeschlüsselt, Fall abgehakt. Mitnichten. Um es vorwegzunehmen: Wir haben es in diesem Fall, sprich Hotschnigs neuem Roman, mit einer Virtuosität des Erzählens zu tun, die ihresgleichen sucht, machen uns mit der Lektüre auf die Spur des bestgehüteten Geheimnisses, über das jeder Mensch, solange er bei Trost ist, fraglos verfügt: die Einbildungskraft.
Im inzwischen zum Klassiker avancierten Buch "staat sex amen" (1999) des viel zu früh verstorbenen Schweizer Sprachbeobachters Beat Gloor (1959-2020) findet sich ein Text unter dem Titel "166 Arten, Fritz zu sagen". Die Deutung des Textes fällt leicht, er beinhaltet exakt 166 Schreibarten des Eigennamens Fritz. Genau genommen, sind es lediglich 165, auf die in gebührendem Abstand kleingedruckt noch "Pommes frites" zu lesen ist. Und die Interpretation? Entsprechen die Arten, "Fritz" zu schreiben (zum Beispiel als "Frijddz" oder "Phryts"), den Weisen möglicher Aussprache? Was soll der Scherz zum Schluss? Verhalten sich Eigennamen wie Fastfood? So oder anders: Man hätte die Liste doch beliebig erweitern können. Oder?

Der Protagonist in Alois Hotschnigs Roman heißt nicht Heinz Fitz, sondern Heinz Fritz. Das ist der Ich-Erzähler, dem der Autor eine Stimme leiht; und das ist die einzige Erzählperspektive über gut zweihundert Buchseiten - ein Erzählstrom (es gibt keine Unterteilung in Kapitel). Wir lesen den Bericht einer Romanfigur, die vom Stiefvater zwar den Nachnamen Fritz hat, für diesen aber eigentlich nicht existierte; wir vernehmen die Stimme eines Erzählers, dem keine Identität zugestanden wurde, ein Leben lang.
Die Mutter, Gerd Hörvold, einst während des Zweiten Weltkriegs hochschwanger aus Kirkenes im hohen Norden Norwegens ins vorarlbergische Hohenems verfrachtet, zweifelt an der Identität ihres Sohnes, als sie diesen nach einiger Zeit wieder zu sich holt: Er könnte im Heim, wohin er verbracht worden war, verwechselt worden sein.
"Nur der Name Heinz, der klebte an mir von Anfang an. Heinz. Warum heiße ich Heinz? Auch darüber wollte meine Schweigemutter nie reden. Heinz. Heinrich. Heinrich Himmler. Reichsführer-SS Heinrich Himmler. Er war es, der den Lebensborn gegründet hat, und der war es wohl auch, nach dem ich benannt bin. Viele Lebensborn-Kinder hießen nun einmal Heinz, nach diesem treuen Heinrich. 1935 hat das begonnen. Und gehalten hat es bis Kriegsende, für werdende Mütter, die von Soldaten der Wehrmacht und von den Mitgliedern seiner SS ein Kind erwartet haben. Und für die Väter, die sich um diese Kinder nicht zu kümmern brauchten, weil der Lebensborn das für sie übernahm. Hauptsache, es wurde gezeugt, für Deutschland gezeugt, für den Führer. Dafür, dass diese oft ungeplanten Kinder nicht abgetrieben wurden, wurden die Mütter von diesem Verein der SS unterstützt. Damit diese Kinder nicht umkamen und dann bereitstehen konnten für Deutschland. Dafür wurden diese Heime gebaut, und dafür wurden die Mütter mit ihren Kindern oder eben die Kinder auch ohne ihre Mütter aus den besetzten Gebieten nach Deutschland geholt, ins Reich geholt, um dieser Kinder habhaft zu werden."
Hotschnig-Kenner mögen sich an den Roman "Ludwigs Zimmer" (2000) erinnern, worin mit den Arbeitslagern am Loibl ein anderes dunkles Kapitel österreichischer Geschichte des Zweiten Weltkriegs beleuchtet wird.
Gerd Hörvold war also ein "Deutschenmädchen"; von ihrem zukünftigen Ehemann, dem Wehrmachtsoldaten Anton Halbsleben, mit einem Silberfuchs um den Hals in dessen Heimat vorausgeschickt, war sie alsbald als "Nazi-Hure" verschrien - und nirgendwo mehr willkommen, weder in Hohenems noch in Kirkenes. Keine Hochzeit und keine Heimat mehr, kein Unterkommen. Und was für die Mutter galt, traf auf den Sohn nicht minder zu.
Als Heinz, Sprössling des Nazi-Projekts "Lebensborn", mit 16 Jahren eine erste Begegnung mit seinem leiblichen Vater wagt, starrt ihn dieser nur an, und obwohl er den eigenen Sohn erkannt haben musste, geht er im nächsten Augenblick durch ihn hindurch - "ohne Widerstand ging er durch mich hindurch, als stünde ich da nicht, mitten im Weg, als wäre ich gar nicht vorhanden".
Auch ein zweiter Versuch, mit seinem Vater in Kontakt zu treten, brieflich, wird quittiert mit einem Anwaltsschreiben, worin dem Sohn rechtliche Schritte angedroht werden, sollte er von seinen Annäherungsversuchen nicht ablassen. Anton Halbsleben hatte längst entschieden, nicht der Vater von Heinz zu sein, und das Gerücht in die Welt gestreut, dass ein Russe dies Kind gezeugt habe.
Mutter und Sohn
So sehr er sich seiner Existenz bewusst sein mag, eine Identität wird Heinz nicht zugebilligt. Einzig in der Welt der Vorstellung findet er seinen Platz, eine Welt, die sich ihm mit der Entdeckung des kleinen Reisekoffers der Mutter eröffnete, worin sich nicht nur der Lebensborn-Fahrplan der SS fand, sondern auch ein Heftchen auf Norwegisch: "Peer Gynt", das Theaterstück von Henrik Ibsen.
"Meine Mutter war eine Schauspielerin, sie wäre eine gewesen, und ob ich nun von ihr bin oder nicht, von ihr habe ich es, dass ich bin, wie ich bin. Sie las mir vor, dadurch holte sie mich von dort weg und in eine Welt, die es bis dahin nicht gab, nicht für mich. In ihrem Zimmer, auf ihrem Bett, mit diesem Buch auf dem Schoß brachte sie mich spielend noch einmal zur Welt. Meine zweite Geburt, und diesmal war ganz sicher sie die Mutter und ich war es, der gemeint war. Das war sie, das war ich, und das waren von nun an wir beide. Vor meinen Augen ist sie in den Himmel gefahren, und ich bin dabei ins Leben gekommen, für die Dauer einer Aufführung immerhin war es so. Unsere gemeinsame Welt war aus ihrem Koffer gekommen, aus einem Buch und aus einer Geschichte über eine Mutter und ihren verlorenen Sohn. Diese Welt war von nun an unser Versteck, und eine ganze Welt als Versteck, das war schon nicht nichts."
Der Zwang zur Verstellung wandelt sich in eine Lust am Rollenspiel. Heinz holt sich Dracula ins Bett, sieht sich als Tarzan im Stil eines Lex Barker an Lianen durch die Lüfte schwingen. 1965 wird er an der Schauspielschule Wiesbaden angenommen, nicht zuletzt deshalb, weil er die epileptischen Anfälle der Mutter bis über die Schmerzgrenze hinaus nachzuspielen imstande ist.
Während der Ausbildung arbeitet er als Pfleger im Krankenhaus, die meiste Zeit auf der Psychia-trie. "Dabei habe ich zwar meine Psyche nicht in den Griff bekommen, aber ich konnte sehen, wie viele arme Teufel es gab." Der Valentin in Goethes "Faust" ist seine erste Rolle, eine Vielzahl weiterer folgen. Premierenfeiern meidet Heinz konsequent, weil er nicht in der Lage ist, quasi auf Knopfdruck wieder aus einer Rolle auszusteigen: "Es ist ein Unterschied, ob ich als Schauspieler gesehen und wahrgenommen werde, auf der Bühne, als der Mensch, den ich darstelle und der ich bin, in diesem Augenblick und für eine vereinbarte Zeit, oder eben als derjenige, der ich zumindest für mich selber zu sein scheine."
Spiegelberg in Schillers "Räuber", eine Nebenrolle in Büchners "Woyzeck" - es sind die versehrten Figuren, die abgründigen und zwiespältigen, die man Heinz spielen lässt - ein gestelltes Leben, so offenbart sich uns der Werdegang dieses Roman-Protagonisten, der nie eine Hauptrolle spielte, vielmehr als Lückenbüßer sein Dasein fristet. Immer wieder lässt Hotschnig ihn neu ansetzen in diesem groß angelegten Versuch, sich im Nachhinein ein Leben zusammenzureimen. Schließt sich jedoch eine Lücke, öffnet sich sogleich ein neuer Abgrund.
Vorstellungskraft
"Eine Angst wäscht die andere", hielt Alois Hotschnig schon in seiner ersten Erzählung, "Aus" (1989), fest. Findet Heinz etwa eine Erklärung, wie die Mutter von Hohenems nach Lustenau kam, und wie die Leute von Lindau, seine Taufeltern, darin verwickelt waren, relativiert er das Gesagte noch im selben Atemzug: "... ich fantasiere, ich muss fantasieren, aber es ist möglich, sonst wäre es auch kein Roman." Sagt Heinz Fritz. Schreibt Alois Hotschnig.
"Es gibt keine Fiktionen ohne Leerstellen", schreibt der Philosoph Markus Gabriel in seinem luziden Werk "Fiktionen" (2020), infolgedessen sei ein Autor auch keine Autorität in der Frage, wie genau man sich eine literarische Figur vorzustellen habe, "er erzeugt lediglich den Spielraum", der dem Rezipienten eine ästhetische Erfahrung erst ermöglicht, den Anlass bietet, "unsere Einbildungskraft auszuüben". Alois Hotschnigs Roman "Der Silberfuchs meiner Mutter" bietet für diese Ausübung den idealen Anlass, weil das Lesen nicht nur Kopfsache, sondern auch - wie im vorliegenden Glücksfall - eine körperliche Erfahrung ist.