Für die nächste Generation österreichischer Germanistinnen und Germanisten dürfte ein lohnendes Forschungsfeld die Frage sein: Wie viele Brüche, wie viel an Fragilität weisen die binnen eines Halbjahrhunderts erschienenen Prosabände des 1943 geborenen Wieners Peter Henisch eigentlich auf, wie viel darin ist literarisches, zeithistorisches, zitatgespicktes Spiel, von - man achte auf die Titel! - seinem Debüt "Hamlet bleibt" bis zu seinem allerneuesten, "Der Jahrhundertroman"?

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Zwei Figuren dominieren dieses Buch. Da ist Lisa, in Linz aufgewachsen in einer wohlhabenden Familie, die in Wien deutsche Literatur studiert und zum Geldverdienen in einem mehr schlecht als recht besuchten Kaffeehaus im 17. Gemeindebezirk jobbt. Der alte Herr Roch ist dort Stammgast. Er macht Lisa die Offerte, für ihn ein von Hand geschriebenes Manuskript abzutippen, seinen "Jahrhundertroman". Denn er begann ihn, obschon viel länger geplant, am 1. Jänner 2000 zu schreiben. Lisa geht zögerlich auf das Angebot ein und besucht Herrn Roch in seinem "Depot" in der Josefstädter Florianigasse.

Krakelige Vignetten

Dort wuchern die zu Papier gebrachten Lektüre- und Lebenserinnerungen des einstigen Buchhändlers und nachmaligen stellvertretenden Leiters einer Filialstelle der Wiener Büchereien, der in Frühpension geschickt wurde, zusammen mit dem, was er in krakelig dünner, für Lisa kaum entzifferbarer Schrift notiert hat.

Es sind zahllose Vignetten zur Literarhistorie, die Henisch dem Herrn Roch unterschiebt. Sie handeln von H. C. Artmann und Heimito von Doderer, von - und diese Vignette ist besonders liebevoll - Friederike Mayröcker, noch Englischlehrerin in einer Hauptschule in der Herzgasse, und Ernst Jandl, von Ilse Aichinger, Veza Canetti (der es gelingt, Karl Kraus ein langes Gedicht Heinrich Heines, den dieser verabscheut, ins Ohr zu flüstern), Christine Nöstlinger und Elfriede Jelinek, die der Germanist Wendelin Schmidt-
Dengler vor Rapid-Fans in Sicherheit bringt, von Peter Handke im Kino, von Ödön von Horváth und Joseph Roth, der, obschon todkrank, im März 1938 nach Wien fährt, um Schuschnigg zur Abdankung zugunsten Otto von Habsburgs zu überreden. Oder von Robert Musil im gelben Morgenmantel, der 1918 am Tag der Deklaration der Republik mit Fieber am Fenster steht - und zwar im Haus genau gegenüber dem Roch’schen Lager.

Parallel dazu macht sich Lisa ärgste Sorgen um ihre beste Freundin Semira, die vor einigen Jahren aus Syrien nach Österreich floh und nun, von Schubhaft bedroht, verschwunden ist, um völlig überraschend in Lisas Wohngemeinschaft im 9. Bezirk aufzutauchen.

Bedrohte Literatur

Lediglich an der Oberfläche ist dies ein arabesk verspielter Literatur-Roman, noch täuschender ist der scheinbar arg simpel gestrickte politische Gegenwartsanstrich. Vielmehr leuchtet Henisch leichthändig wie komplex die Tiefendimension der Krisis des 20. Jahrhunderts aus: indem er vor Augen führt, wie umzingelt von Politik, Diktaturen und Tyrannei die österreichische Literatur des 20. Jahrhunderts war, wie gepiesackt von subjektiver Verzweiflung und von gesellschaftlichem Untergang, von Aufbruch und Ende und, wie am Ende des "Jahrhundertromans", von Vergehen und Hoffnung.