Richard Wall ist ein randständiger Autor und Künstler, der vor "Zersiedelung, Bodenversiegelung, Abholzung" aus dem Weichbild von Linz ins Waldviertel emigriert ist. Auch in seinen früher erschienenen Reiseberichten lenkt er den Blick der Leserschaft gern vom Zentrum auf die Peripherie.

Dementsprechend muss man in seinem Tagebuch aus dem Corona-Jahr weder Nabelschau noch buchhalterische Korrektheit befürchten. Ausgelöst durch ein Gespräch, reist Wall schon am ersten Tag des Jahres geographisch nördlich und zeitlich 30 Jahre zurück in die Aufbruchsstimmung in der damaligen Tschechoslowakei. Wanderungen werden ebenso zu Auslösern kenntnisreicher Assoziationen wie Todestage und Textfunde, seien es Gedichtzeilen oder Zeitungsaufmacher.

Als Person tritt der Autor dabei hinter die Beschreibungen von Personen und Dingen, den Kleinodien der Kunst und der Natur zurück. "Ich mag Bruchstücke. Ich erkenne mich in ihnen", stellt Wall fest. Die Breite der Anregungen zeigt sich an den Personen, die in den Texten vorkommen. Paul Auster, Anaïs Nin, Werner Pirchner, Kay Sara, Josef Nesvadba, Bob Dylan, Rosa Luxemburg, Konstantínos Kaváfis und Flann O’Brien sind nur einige davon.

- © Löcker
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Manchmal sind die Erwähnungen indirekte Aufforderungen, sich mit weitgehend Vergessenen wie Josef Mühlberger oder Wolfgang Paalen zu beschäftigen. Parallel zu den Menschen treten auch Tiere, Pflanzen und immer wieder Berge auf.

Die Causa prima des Landes wird unaufgeregt im Hintergrund und vor allem anhand ihrer gesellschaftlichen Auswirkungen behandelt. Ausführlicher sind Schilderungen des sinnlich wahrgenommenen und intellektuell reflektierten Alltags, wie des langsamen Verschwindens eines Freundes aus dem Leben.

Fast immer sind die Darstellungen und Assoziationen zurückhaltend oder poetisch und lassen den Lesenden Raum für eigene Schlüsse: "Nur wenigen gelang es, sich den Weg durch die zu Stalins Sarg drängenden Massen zu bahnen, um zum Haus des Komponistenverbandes in Moskau zu gelangen, wo Prokofjew aufgebahrt wurde."

Selbst klare Positionen formuliert Wall lieber als Fragen denn als Urteil. Über die Ermordung eines französischen Lehrers durch einen Fanatiker heißt es: "Und wie erfuhr der Mörder von der Aufklärungsarbeit des Lehrers? - Über das sogenannte soziale Netzwerk."

Ein Tagebuch, schließt Wall, hat gegenüber dem Roman den Vorteil, dass alles ungelöst bleiben kann. Die Arbeit des Weiterdenkens bleibt bei den Lesenden. Wer sich von einem Buch herausfordern und anregen lassen will, ist hier genau richtig.