Sein Buch "1913" war vor wenigen Jahren das Buch, das irgendwie jeder gelesen hat: Der letzte Sommer, bevor der Erste Weltkrieg das Grauen über Europa brachte, im Spiegel einer herausragenden künstlerischen Schöpfungskraft von Proust über Lasker-Schüler zu Strawinski - lebendig erzählt mit anekdotischen Details. Nun hat sich Florian Illies in "Liebe in Zeiten des Hasses" (S. Fischer) auf ähnliche Art ein ganzes Jahrzehnt vorgenommen: 1929 bis 1939. Ein Jahrzehnt, das mörderische Geschichte schrieb, diesmal erzählt in Liebesgeschichten. Ein Gespräch über Diagramme mit Herzen, Leichtigkeit in der Leidenschaft und Parallelen von damals und heute.

"Wiener Zeitung": Erst 1913, nun die 30er Jahre - ist das eine logische Fortführung?

Florian Illies: Nein. Die 20er und 30er Jahre beschäftigen mich als Kunsthistoriker und Journalist, seit ich schreibe. Wir haben ein Klischee für die 20er Jahre als die Goldenen 20er und ein Klischee für die 30er als politisches Jahrzehnt mit den vielen schrecklichen, traurigen, großen Ereignissen. Die Frage, wie die Menschen gelebt haben in den 20er, 30er Jahren wird nicht berücksichtigt, und wie sie gefühlt haben noch weniger. Wie kommen wir denn diesen Zeiten wirklich nahe, wie kommen wir dem Gefühl der Zerrissenheit und Ungewissheit in dieser Zeit nahe? Dass 1933 die Nationalsozialisten kommen, dass 1938 dann der Anschluss geschieht, dass 1939 der Zweite Weltkrieg beginnt, das wissen wir alles, aber die Zeitgenossen wissen das eben nicht. Die sind zerrissen zwischen positiven und negativen Zeichen. Ich merkte, wenn ich mich auf die Liebe konzentriere, die elementaren Gefühle, dann kann ich eine andere Geschichte dieser 30er Jahre erzählen, die dieses schwarz-weiße Bild, das wir von dieser Zeit haben, ergänzt. Denn die schwarz-weißen Bilder, die wir aus den Geschichtsbüchern und Zeitungen kennen, haben etwas sehr Abweisendes, weil sie so vergangen scheinen. Dabei wissen wir aus unserer eigenen Familie, dass das oft nur eine oder zwei Generationen entfernt ist. Mein Ansatz war, das Schwarzweiß-Bild zu einem Farbfilm zu machen.

Also Liebesgeschichten, die Weltgeschichte miterzählen?

Ja. Dafür habe ich zwei Jahre sehr intensiv recherchiert: Ich habe auch viele Liebesgeschichten weggelassen, zum Beispiel Bonnie und Clyde und Frida Kahlo. Es war klar, es muss sich um Mitteleuropa unter den dunklen Wolken der Nationalsozialisten drehen. Ein österreichisches Beispiel - Alma Mahler - ist wie ein Brennglas: Alma Mahler im Exil! Da spürt man richtig, die ist so entgeistert, dass sie, diese gefeierte Dame der Wiener Gesellschaft in einem kleinen Steinhaus sitzen muss, bloß weil sie mit diesem Mann, Franz Werfel, zusammen ist. Es ist bezeichnend für diese Zeit, dass sich Kategorien plötzlich komplett ändern. Das ist Willkür, die Menschen in innere Unruhe und Angst versetzt. Die Unruhe der 20er Jahre ist eine ganz andere, wilde Unruhe dieser zerberstenden Zeit.

Es ist aber, allein schon bei Bertolt Brecht, gar nicht leicht den Überblick über die Liebschaften zu behalten. . .

Ich versuche, den Leser an meiner eigenen Überraschung teilhaben zu lassen, auch an meiner Schwärmerei für bestimmte Liebesgeschichten, aber auch am Chaos. Ich hab dann große Diagramme gemalt mit Herzen und zerbrochenen Herzen, um den Überblick zu behalten.

Es wirkt rückblickend fast wie eine tödliche Falle für gleichgeschlechtlich Liebende: Erst wagten sie sich zu jener Zeit aus ihren Verstecken heraus, nur um kurz darauf so brutal wie lange nicht verfolgt zu werden.

Das ist wirklich verstörend zu erleben, wie dieser Fortschritt darin, was um 1930 gesellschaftlich möglich war an Homo- und Bisexualität, spätestens 1933 verschwindet, und wie es dann nach dem Krieg verschwunden bleibt. Wie wir dann in einer besenreinen Moral landen. Also ich schreibe natürlich über die Bohème, aber die sind auch die Role Models, da war alles möglich, verheiratete Ehepaare, die parallel bisexuelle Erfahrungen hatten. All das endete 1933, weil dann selbst die berühmtesten Tennisspieler und Komponisten für Homosexualität ins Gefängnis gesteckt werden. Weil diese freie Liebe für die Nationalsozialisten zu einem Propaganda-Anklagepunkt wird. Die freie Liebe verliert ihre Unschuld, die wird zu einem politischen Widerstandsakt von denen, die sie weiterhin praktizieren, und umgekehrt wird es für die Nazis zu einem Thema des Sodom und Gomorrha, das sie heraufbeschwören können. Man versteht dann, dass Fortschritt und Aufbruch auch immer Schattenseiten haben und dass in diesem Fall die Schattenseiten sehr, sehr dunkel werden.

Wir sind ja heute in einer Zeit, in der unglaublich viel theoretisch über Gender und Zugehörigkeit, Ausgrenzung und Identität gesprochen wird. Wenn ich diese theoretischen Debatten so anschaue, würde ich sagen, mein Buch ist der Praxisteil dazu. Weil das damals auf eine sehr befreiende Weise einfach gelebt wurde, und - ein sehr großer Unterschied zu heute - mit sehr viel Humor aufgenommen. Wenn etwa die Großmutter von Erika Mann, die Gustaf Gründgens heiratet, den erklärtermaßen homosexuellen Theaterintendanten, dazu sagt: "Also, bis ich hier zur Urgroßmutter werde, braucht’s viele Eingebungen des Heiligen Geistes". Das ist so herrlich entspannt humorvoll, das ist auch eine Geisteshaltung, die uns in unseren gegenwärtigen Debatten sehr fehlt.

Also auch das hat die Weltkriegs-Zäsur zerstört?

Wenn man in die Zeit hineinsteigt, Artikel, Zeitschriften Tagebücher liest, dann ergibt sich ein unglaublicher Möglichkeitsraum: Diese Weimarer Republik, die war in gewisser Weise auch die fortschrittlichste Demokratie, die es in Europa je gegeben hat, mit dem Frauenwahlrecht, der Arbeitslosenversicherung - das hätte auch in eine ganz andere Richtung gehen können. Man sieht das in anderen Bereichen, zum Beispiel in der Kultur: Die Franzosen haben einen viel bruchloseren Übergang, die haben dieses 1933 nicht, die haben nicht wie wir ein schwieriges Verhältnis zum Art déco, weil es sich bei uns in einer politisch belasteten Zeit entwickelt hat. In Frankreich durfte es sich in der Architektur, im Design unabhängig von der Politik entwickeln, ist also eine klassische Stilform der 30er Jahre. Wir dürfen nicht mit all unseren klassischen Formen 1933 aufhören, wir müssen weiterhin fragen, was ist da für Literatur geschrieben worden, welche Kunst ist gemacht worden, ist das gute oder schlechte Kunst, all diese großen Fragen, die man sonst selbstverständlich stellt, liegen unter der Bleidecke der politischen Entwicklung der 30er Jahre.

Neben den großen, bekannten Namen tauchen auch in diesem Buch nicht so bekannte Namen auf, etwa die umtriebige Autorin Ruth Landshoff - haben Sie da den Antrieb, diese Namen bekannter zu machen?

Unbedingt, ich hab da auch missionarischen Eifer. Als ich Ruth Landshoff entdeckt habe, ich hab damals den Roman "Die Vielen und der Eine" gelesen, da konnte diese Leichtigkeit gar nicht glauben, was da möglich war an Popliteratur. Ich hab mich dann mehr mit ihr beschäftigt und festgestellt, dass sie eine zentrale und prägende Figur dieser Jahre war, im Journalismus, im Schreiben und im Menschen-Verbinden. Mit wem die aller verbunden war! Thomas Mann, Gerhart Hauptmann, Charlie Chaplin. Kennengelernt habe ich sie in einer Ausstellung von neuentdeckten Fotos, die sie zusammen mit Josephine Baker zeigen. Während meiner Zeit bei Rowohlt habe ich "Die Vielen und der Eine" neu aufgelegt, denn es ist ursprünglich bei Rowohlt erschienen gewesen.

Vor allem die anekdotischen Details machen Ihre Bücher so packend - wie kommen Sie an die?

Man muss sehr viel lesen. Dass Gala Salvador Dalí täglich morgens und abends zehn Minuten die Zähne geputzt hat, das findet man nicht so leicht. Manchmal sind nur die kleinsten Dinge in das Buch eingeflossen, zum Beispiel wie der Händedruck von Bert Brecht war, kraftvoll oder schlaff. Das findet man in Beschreibungen von seinen Geliebten, die beim ersten Mal so enttäuscht waren, wie schlaff der große Mann die Hände geschüttelt hat. Aber dafür muss man viele Seiten lesen, die nichts damit zu tun haben. Da bin ich dann schon Jäger des verlorenen Schatzes.

Interessanterweise spielt der Erste Weltkrieg für die Menschen kaum noch eine Rolle. . .

Da habe ich erst nach dem Schreiben des Buchs noch dazugelernt: Der Erste Weltkrieg wird in Deutschland verdrängt aus zwei Gründen. Der Krieg hat ja außerhalb Deutschlands stattgefunden, die Männer kamen zwar von den Schlachtfeldern und waren innerlich zerstört, hatten auch Narben und Verkrüppelungen, aber die kamen in ein irritierend intaktes Deutschland. Das Zweite ist, dass dann die Probleme des Alltags so groß waren, die neue Demokratie ohne Monarch, die Inflation, etc., sodass sich viele erst einmal in dieses Leben stürzen mussten. In einer Doku über die Weimarer Republik hat ein Traumaforscher gesagt, der normale Rhythmus sei, dass ein schlimmes Trauma nach zehn Jahren zurückkehrt. Und das Kriegstrauma kehrt 1928/29 relativ stark ins Bewusstsein der Deutschen zurück. Da erschien auch Remarques "Im Westen nichts Neues". Diese komplette Abrechnung mit dem Grauen des Ersten Weltkrieg, die bestimmt dann auf sehr extreme neue Weise die Debatten. Und dann wird das Trauma instrumentalisiert durch die Nazis, die den Ersten Weltkrieg und die Schmach des Versailler Vertrags zur Mobilisierung verwenden.

Für mich war das verstörend, wie Josephine Baker 1929 in Berlin und Wien von der Bühne gepfiffen wurde, diese Schwarze, die wir symbolisch sehen für die charlestondurchtränkten 20er Jahre. Dass da die Dinge schon so ins Rutschen gekommen waren - eben nicht 1933, sondern schon 1929. Da hört dieses Zeitalter der Freiheit und des Rausches auf, und die verschiedenen Formen von Antisemitismus, Rassismus von stubenreiner Moral werden immer präsenter.

Manche finden unsere heutige Zeit vergleichbar mit damals. Sie auch?

Ich habe zu meiner eigenen Überraschung festgestellt, dass, als ich erzählt habe, mein neues Buch heißt "Liebe in Zeiten des Hasses", sehr viele gedacht haben, es ist ein Buch über die Gegenwart. Das muss man sehr ernst nehmen. Weil so viele Menschen erleben, was für Ausbrüche von Hass und Hetze plötzlich an der Tagesordnung sind, was man vor 10 bis 15 Jahren noch unvorstellbar gefunden hätte. Einerseits auf der Straße mit Demonstrationen, andererseits im Internet, in diesen Shitstorms, die wirklich bis zum Selbstmord führen bei den Betroffenen. Dieses absolute Schwarzweißdenken ist leider sehr vergleichbar mit damals, es gibt nur noch Freund und Feind. Da ist auch eine totale Verweigerung von Austausch mit Argumenten, das ist leider sehr vergleichbar mit damals. Nicht nur in Donald Trumps Amerika, sondern auch in Deutschland und Österreich. Dass immer wieder neue Schlachtfelder gefunden werden, sei es Identitätspolitik, Genderpolitik, Impfungen, das erinnert auf erschreckende Weise an diese ungeheure Aufheizung des Klimas um 1930.