"Ich habe eine Partitur, nach der ich lebe, jedenfalls wenn ich schreibe: Wenn man vor der Wand steht, wenn es nicht weitergeht, muss es irgendwo anders weitergehen", hat Alexander Kluge schon 2003 in seinem Band "Die Lücke, die der Teufel lässt" erklärt. Dieser Satz beschreibt äußerst treffend Kluges Energie, seine Umtriebigkeit, seinen Willen, neue Wege zu erforschen, neue Zusammenhänge zu ergründen - alles abseits des intellektuellen und künstlerischen Mainstreams.
Neugier und Wissensdurst hat sich Kluge bis heute erhalten, wie seine beiden kürzlich erschienenen Bände - "Das Buch der Kommentare" und "Zirkus/Kommentar" - unter Beweis stellen. In beiden Büchern bewegt sich der Autor ganz nah an der Aktualität. Er befasst sich ausführlich mit der Präsidentschaft von Donald Trump und deren gewalttätigem Ende im Jänner 2021, und auch Corona und der Einfluss der Pandemie auf unser Leben spielen eine zentrale Rolle. Bereits im Frühjahr 2020 hat Kluge Gespräche mit der Virologin Karin Mölling geführt; von der Gefährlichkeit der unterschätzten "Viren-Intelligenz" ist darin die Rede. Daneben stehen auch humorvolle erzählerische Petitessen, so ein Erlebnis mit seinem Hund zu Weihnachten: "Ein Brocken Rindfleisch, und er wäre mit Jesus versöhnt."
Multimedial aktiv
Ein wiederkehrendes Motiv in beiden Bänden sind Zirkuserlebnisse aus der Kindheit, die Kluge mit intellektuellem Scharfsinn und dichterischer Fantasie neu auf die Beine stellt. Da reichen dann die assoziativen Loopings bis zur Französischen Revolution, zu Sigmund Freud, Jürgen Habermas und Theodor W. Adorno und zu den Malern Gerhard Richter und Sigmar Polke.
Alexander Kluges Selbstironie, sein kaum zu bändigender Bildungshunger, aber auch seine spielerische, kindliche Leichtigkeit, die er sich bis ins hohe Alter bewahrt hat, haben ihn zu einem absoluten Solitär in der Intellektuellenszene des letzten Jahrhunderts werden lassen. Die Umtriebigkeit des Multitalents ist bewundernswert. Als Schriftsteller, Filmregisseur, Filmtheoretiker, Leiter der Produktionsfirma "Kairos-Film" und Mitgründer der "DCTP", scharfsinniger Essayist, Dozent an der Filmhochschule, Kulturtheoretiker, TV-Moderator und Fernsehproduzent schwamm der Adorno-Schüler nie auf den Wogen des Zeitgeistes mit, sondern ruderte kraftvoll gegen den Strom und gab viele neue kulturelle Impulse.
Alexander Kluge, der am 14. Februar 1932 in Halberstadt als Sohn eines Arztes geboren wurde, setzte nach seinem Jurastudium als Schriftsteller in den 1960er Jahren noch vor Peter Weiss und Heinar Kipphardt ganz auf die dokumentarische Collage ("Lebensläufe", 1962). Als Regisseur, der einst bei Fritz Lang volontiert hatte, revolutionierte er den deutschen Film und gilt zusammen mit Edgar Reitz und Peter Schamoni als Wegbereiter des deutschen Autorenfilms.
Und Ende der 1980er Jahre, als von Kulturpessimisten der Untergang der Fernsehkultur vorausgesagt wurde, produzierte Kluge für kommerzielle Sender anspruchsvolle Kulturmagazine ("10 vor 11", "MitternachtsMagazin", "Primetime"), die er sich gut honorieren, aber nicht zensieren ließ.
"Ich bin anti-belletristisch. Ich glaube nicht an Hochkunst. Sondern an eine relativ triviale Art des Erzählens", erklärte Alexander Kluge 2007 in einem Interview mit der "Neuen Zürcher Zeitung". Das klingt doch sehr nach Understatement, denn der Georg-Büchner-Preisträger des Jahres 2003 erzählt alles andere als trivial. Seine assoziative Prosa, seine Sammlungen aphoristisch zugespitzter Gedankensplitter bilden ein gigantisches, freischwebendes, reflektierendes Oeuvre, zu dem es - literarisch und methodisch - im deutschen Sprachraum kaum Parallelen gibt (allenfalls beim 2001 tödlich verunglückten W.G. Sebald). Kaum zu glauben, dass der große Experimentierer und Dokumentarist in jungen Jahren Thomas Mann verehrt hat.
Horizonte erweitern
Kluge liefert weder festgefügte Weltbilder noch griffige Storys, sondern versucht, Erfahrungen zu vermitteln ("Eigentlich brauchen wir einen Atlas unserer Erfahrung") und aus einem assoziativen Bildermeer und dokumentierten Fakten Zusammenhänge zu konstruieren. "Wir leben nicht in einer Gegenwart. Wir leben gleichzeitig in einer Vergangenheit, einer Zukunft und in der Möglichkeitsform, in einem Konjunktiv", schrieb er 2006 in seinem Band "Tür an Tür mit einem anderen Leben". Umtriebig, fast ruhelos ist der seit vielen Jahren in München lebende Kluge immer noch als Horizont-Erweiterer in eigener Sache aktiv.