Das Spektrum gegenwärtiger Comics ist breiter als allgemein angenommen. Vier Veröffentlichungen aus dem letzten Halbjahr aus dem deutschsprachigen Raum zwischen Zürich, Berlin und Wien deuten die ästhetische und thematische Vielgestaltigkeit innerhalb des Mediums an.

Wie etwa Jacques Tardi mit seinem Privatdetektiv Nestor Burma. Der Züricher Comicverlag Edition Moderne hat mit "Burma" die Gesamtausgabe der Krimi-Klassiker herausgebracht. Basierend auf Léo Malets Romanen, umgesetzt zwischen 1982 und 2000, liegen sie nun chronologisch in der Reihenfolge vor, in der sie spielen.

Ausschnitt aus "Nestor Burma"... 
- © Edition Moderne

Ausschnitt aus "Nestor Burma"...

- © Edition Moderne

Das lässt manchen Witz, der sich erst zwischen zwei Folgen erschließt, nachvollziehen, wie etwa das Spiel mit René Magrittes Gemälde "Mann und Mond", das in Burmas Büro "Fiat Lux" hängt, in "120, Rue de la Gare" von einer Kugel durchlöchert wird - "Mein Magritte!" - und in "Kein Ticket für den Tod" mit zwei Streifen eines Klebebands restauriert nochmals zu sehen ist. Pointenreiche Anspielungen und Zitate sind nur ein Aspekt der in gekonnter Film-Noir-Ästhetik erzählten Krimis des französischen Zeichners.

Die ersten Seiten des Bandes, die im Stalag XB, September 1940, angesiedelt sind, wirken wie eine zeitlich verkehrte Reminiszenz an den von Tardi erst kürzlich gezeichneten dreibändigen Comic "Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag II B" (OF 2012-2018) über die Erfahrungen seines Vaters als Kriegsgefangener in Nazideutschland. Da blitzt jener Tardi auf, der nur eines zutiefst verachtet: den Krieg, der seine Abscheu jedoch stets in beißenden Spott verpackt.

Dass Burma ein gewitzter Schnüffler ist, steht außer Frage, aber nur für Banausen ist er ein "echter Polyp", ein "Bulle". Seine anarchistische Vergangenheit, die ihn geprägt hat, teilt er mit seinen beiden Schöpfern Malet/Tardi. Darüber hinaus liefern die Comics eine spannende Mitschrift der Zeit: Plakate, Aufschriften und Graffiti kommentieren die politischen Hintergründe von der Vichy-Regierung Philippe Pétains, der Nachkriegszeit bis zum Algerienkrieg. Passagen, Straßenzüge, Brücken und Bahnhöfe hat der Künstler akribisch rekonstruiert.

Im Nebenbei lässt Tardi ein historisches Panorama der Städte Lyon und vor allem Paris erstehen. Lediglich vor dem Nebel weicht die Detailgenauigkeit zurück. Denn der Nebel ist der zweite geheimnisvolle Protagonist neben Burma. Und in den schwarzen Spiegeln der Pfützen verdoppelt und verwandelt sich die Stadt in eine verdächtige Zwischenwelt.

Das Vergnügen lässt sich zum Glück hinausziehen, denn auch Tardis Comic-Serie "Adeles ungewöhnliche Abenteuer" wird gerade neu aufgelegt ("Adele Blanc-Sec - Sammelband I", Schreiber & Leser). Und Adèle ist Nestor Burmas wilde Schwester, in Farbe.

Anti-Biografie

Im Unterschied zum Krimigenre ist Biografie im Comic eine relativ neue Erscheinung, die allerdings seit einiger Zeit prächtig floriert. Der Leipziger Zeichner Max Baitinger hat nun die Barockdichterin Sibylla Schwarz ins Bild gerückt. Inmitten des Dreißigjährigen Kriegs geboren und bereits mit 17 Jahren, 1638, an der Ruhr verstorben, hat sich die junge Frau mit nur knapp hundert Gedichten in einer männlich dominierten Literaturwelt auf den Parnass geschwungen.

200 Jahre später wurde sie aus dem Kanon verdrängt und vergessen, doch anlässlich ihres 400. Geburtstags im letzten Jahr wurde ihr Gesamtwerk neu herausgebracht. Einst als "pommersche Sappho" gepriesen, entdeckt man heute in ihr eine feministische Stimme aus der Urzeit der Moderne.

Ausschnitt aus "Sibylla" 
- © Reprodukt

Ausschnitt aus "Sibylla"

- © Reprodukt

Baitinger sträubt sich, eine gewöhnliche Lebensgeschichte nachzuzeichnen. Angesichts der spärlichen Lebensdaten ließe sich die Biografie mit einigen Sätzen abhaken. Dies führt der Autor vor. Schon nach wenigen Seiten heißt es: "Ende der Graphic Novel!" Stattdessen inszeniert der Zeichner eine Anti-Biografie mit zahlreichen Brüchen und lässt sich dabei von seiner Protagonistin über die Schultern schauen. Seine Leser allerdings wirft er aus der Bahn gewohnter Erwartungen, und zwar auf doppelte Weise, auf der Textebene wie auf der Bildebene.

"Einen Strich in die Landschaft und behaupten... / ... - das hier sei jetzt Sibylla Schwarz:" Es folgt ein Panel mit einer als Frau erkennbaren Figur mit Schreibutensil. Doch das ist ebenso wenig "eine große Dichterin des Barock" wie René Magrittes gezeichnete Pfeife "une pipe". Die Irritationen regen die Auseinandersetzung mit jener jungen Wortkünstlerin an. Wer war diese mutige, selbstbewusste Frau, die Zeit zum Schreiben fand, während rundherum der Krieg tobte?

In ihren Gedichten beschwört sie die "Fretowische Fröhlichkeit". Was verlieh ihr, die mit neun Jahren ihre Kindheitsorte Greifswald und Fretow vor den plündernden Truppen Wallensteins verlassen musste, solche Kraft, mit der sie sich über die Verluste hinüberrettete? Während der Zeichner mit dekonstruktivem Witz hinter vexierbildhaften Zeichencollagen Zitate alter Meister wie etwa "Tondals Vision" von Hieronymus Bosch versteckt, nähert er sich selbst in Form eines grafischen Gedichts den brillanten Zeilen seiner Protagonistin an.

Schauplatzwechsel: Petersburg, 2017. "Du erinnerst dich an vieles besser als ich. / Statt meiner." Was auffällt, ist das innige Verhältnis zwischen Oma und Enkelin. Doch zuvor ist es noch die schwarze Tusche. "Surwilo - Eine russische Familiengeschichte" von Olga Lawrentjewa ist die Lebensgeschichte der Großmutter der Zeichnerin - und zugleich eine exemplarische Geschichte des 20. Jahrhunderts von der Rückseite Europas.

"Erinnerungsfaden": aus Olga Lawrentjewas "Surwilo". - © Abb.: avant
"Erinnerungsfaden": aus Olga Lawrentjewas "Surwilo". - © Abb.: avant

Oma Walja hat ihre eigene Zeitrechnung: Es gibt die Zeit "vor dem Unglück". Das Glück sind zwei um den Tisch tanzende Mädchen in einer Leningrader Wohnung. Der geschwungene Faden in der Hand der nähenden Mutter teilt die Seite in Erinnerungsräume flüchtiger Augenblicke. Mit zwölf - 1937 - war Waljas Kindheit vorbei. "Das Unglück passierte im November." Eines Abends kam ihr Vater, überzeugter Kommunist, nicht mehr von der Arbeit zurück. Heute wissen wir, dass es keines Anlasses bedurfte, um auf die Liste der "Volksfeinde" zu gelangen. Willkür war ein gezieltes Herrschaftsinstrument des NKWD in der stalinistischen Ära der 1930er Jahre.

Das tiefsitzende Trauma wird Walentina Surwilo, geboren 1925 in Leningrad, ihr Leben lang begleiten. Auf diesen größten Verlust ihres Lebens folgen weitere harte Schläge. Die Familie wird aus der Stadt verbannt. Armut und Hunger sind die Folge. Als ihre Mutter Walja zum Studieren nach Leningrad schickt, bedeutet dies eine weitere Trennung. Wenig später beginnt die Blockade durch die Wehrmacht. Bomben, Kälte, Erschöpfung. An alles könne man sich gewöhnen: außer den Hunger.

Von einer Fremden erfährt Walja, dass ihre Schwester gestorben ist. Woran? "Oma, ich glaube, früher hast du mal Typhus erwähnt." Lawrentjewa erzählt im engen Austausch mit ihrer Großmutter. Mit unglaublicher Wucht, kratzenden Federstrichen, ausgefransten Pinselstreifen und Konturen auflösenden Verwischungen bringt sie die Erschütterungen zu Papier, welche die inzwischen über 90-Jährige ausstehen musste. Filigrane Gesichtszüge heben sich aus dunklen Landschaften. Nur das blendende Weiß des Papiers hält den Explosionen schwärzester Tusche etwas entgegen.

Kanadas Indigene

Eine lange verschwiegene Geschichte vom anderen Ende der Welt ist im Wiener Verlag Bahoe Books erschienen. Über 20 indigene Illustratorinnen, Comic-Künstler, Autorinnen und Wissenschafter sind in der Comic-Anthologie "Dieses Land - 150 Jahre neu erzählt" mit Stift oder Stimme vertreten. 150 Jahre? So lange liegt die Gründung der Kanadischen Konföderation zurück.

- © Bahoe Books
© Bahoe Books

Im Gegensatz zu Joe Saccos aufrüttelnder Comicreportage "Wir gehören dem Land" (Edition Moderne, 2020) über die Geschichte des Raubbaus an Ressourcen, der Unterdrückung und Kolonialisierung einer autochthonen Bevölkerung und der grauenvollen Verschleppung, ist "Dieses Land" ein ermutigendes Gegenstück: eine Geschichte von Resilienz und Widerstand, von Selbstbestimmung und Selbstermächtigung.

Die zehn Comic-Episoden zeichnen mit unterschiedlichen grafischen Mitteln Stationen der indigenen Geschichte Kanadas in chronologischer Abfolge nach. Jeder Beitrag ist eingebettet in eine aufschlussreiche Einleitung mit einer Zeit-Map zur Orientierung. Großformatig und durchwegs in Farbe werden Geschichten von couragierten Männern und Frauen und ihren Akten des Widerstands erzählt und gezeigt. Ihnen ist es zu verdanken, dass die Kultur der Indigenen die Angriffe der Kolonialmacht überlebt hat und heute von einer jungen Generation mit neuem Leben gefüllt werden kann.

Allein die eindrucksvolle Rede des jungen Dene-Chiefs, Frank T’Seleie, die der 29-Jährige 1975 vor der Berger-Kommission gehalten hat und die hier rekontextualisiert wiedergegeben wird, lohnt die Lektüre. Besonnen und zugleich kompromisslos in ihrem Ton, blicken die Indigenen Kanadas heute genauso stolz auf diese Rede zurück wie die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung auf jene des Martin Luther King.