Wenn man Juliane Marie Schreiber sagt, sie solle doch mal etwas positiv sehen, dann findet sie: "Ich möchte lieber nicht." So heißt auch ihr Buch (erschienen bei Piper), das sie als "Rebellion gegen den Terror des Positiven" sieht. Ein Gespräch über Depressive Realisten, Glückstees und den Sinn des Schimpfens.

"Wiener Zeitung": Ich habe da so eine Angewohnheit: Wenn ich staubsauge, schimpfe ich laut schreiend über den Staub, den im Weg stehenden Tisch, die hartnäckigen Katzenhaare. Seit ich Ihr Buch gelesen habe, weiß ich, warum ich das mache!

Juliane Marie Schreiber: Das Schimpfen ist etwas Wunderbares, das wir momentan sehr sträflich behandeln. Da möchte ich wirklich eine Lanze brechen, weil es viele Aspekte hat, die sinnvoll sind. Zum einen, weil Schimpfen ein natürliches Schmerzmittel des Körpers ist. Das zeigt ein Experiment, das man gut zu Hause ausprobieren kann: Wenn man eine Hand in sehr kaltes Eiswasser hält und die Zeit stoppt, wird man merken: Das kann man nicht so lange aushalten. Wer aber beim zweiten Durchlauf mit der anderen Hand wüste Schimpfworte ausstößt, also flucht, wird viel länger durchhalten. Schimpfen lässt uns Schmerz leichter ertragen. Das ist auch der Grund, warum Frauen im Kreißsaal stark fluchen, weil der "Fight or Flight"-Modus der Amygdala im Hirn aktiviert wird. Versuche haben gezeigt, dass sogar seelischer Schmerz gelindert wird, wenn man schimpft. Probanden sollten sich vorstellen, dass sie sich sozial ausgeschlossen fühlen. Die Gruppe der Probanden, die danach für zwei Minuten durchgehend geflucht hat, hat hinterher weniger seelischen Schmerz gespürt als die Gruppe, die nicht geflucht hat.

Man kennt ja den Zweckpessimismus, also man rechnet immer mit dem Schlimmsten, um dann vom Halbschlimmsten positiv überrascht zu werden. In Ihrem Buch spielt aber ein mitunter esoterischer Zweckoptimismus eine Rolle.

Am Optimismus ist das Nervige, dass immer alles umgedeutet wird. Das ist die Kultur des Positiven, in der wir leben. Wir können Leid nicht mehr aushalten, haben verlernt, mit Schicksalsschlägen umzugehen, in unserer Zeit, in der man das Scheitern immer als Chance begreifen muss. Die Begründungen werden dann schnell esoterisch: "Es sollte so sein" oder "Alles hat seinen Sinn". Das passt zum spätkapitalistischen Narrativ, nachdem schlechte Dinge nur passieren, damit man an ihnen wächst. Das ist einfach Unsinn, denn nicht aus allen schlechten Dingen erwächst auch etwas Gutes, und ich finde, das sollte man auch ehrlich sagen. Als Beispiel nehme ich immer: Wem würden Sie lieber den Bau einer Brücke anvertrauen, einem Optimisten, der sagt, ach das wird schon halten, oder einem Pessimisten, der sagt, wir überprüfen die Statik lieber noch einmal. Pessimismus wird oft mit Fatalismus gleichgesetzt, den meine ich hier nicht. Ich spreche auch lieber von Depressiven Realisten, die, die kritisch sind, die zweifeln und sich weniger selbst täuschen.

Ein besonderer Dorn im Auge ist Ihnen die "Positive Psychologie" . . .

Die kam in den 1990ern auf, wurde von Martin Seligman begründet. Damals haben sich die Therapeuten in den USA gedacht: Okay, die Menschen sind entweder schon alle in Therapie oder nehmen Psychopharmaka, unser Kundenstamm bricht uns weg. Das war die Motivation dahinter, die Seligman auf die Idee gebracht hat: Wir könnten ja nicht nur die Leidenden therapieren, sondern für alle Menschen das Leben optimieren. Jeder kann alles verbessern: Das ist die Grundidee der Positiven Psychologie. Seligman hat dann noch eine ominöse Glücksformel aufgestellt, die belegen soll, dass wir unser Glück zu ganzen 40 Prozent in der Hand hätten. Viele Psychologen und andere Wissenschaftler haben kritisiert, dass die Zahlen völlig aus der Luft gegriffen sind und diese Formel nicht haltbar ist. Die Positive Psychologie hatte viele Geldgeber im Rücken und wurde auch deswegen so einflussreich. Sie besagt: Du kannst alles schaffen, wenn du es wirklich willst. Das mag für einige sinnvoll sein, ich sehe darin aber ein Problem, weil es gesellschaftlich allen sagt: Du musst nur daran glauben, dass es dir gut geht, dann wird es dir schon gutgehen. Doch wenn Glück plötzlich Einstellungssache ist, dann sind die politischen und gesellschaftlichen Umstände egal, und das ist mir ein Dorn im Auge. Weil es die Menschen allein lässt. Ein gutes Gesundheitssystem, Bildung für alle, Strukturen, die man braucht, damit man sich entfalten kann, die brechen immer mehr weg in einem neoliberalen Gesellschaftsentwurf, in dem sich der Einzelne selbstverwirklicht. Im falschen Umkehrschluss heißt es, man wird auch für sein Leid und sein Scheitern verantwortlich gemacht. Der Obdachlose ist dann selbst schuld an seiner Situation, der "hat sich nicht genug angestrengt", das ist ganz fatal.

In Ihrem Buch zählen Sie höchst amüsant Glücksversprechen und Selbstoptimierungssprüche auf, mit denen selbst Duschgels verkauft werden. Wäre es Zeit für Produkte mit Bezeichnungen wie "Du stinkst, wasch dich" oder "Sei grantig. Die anderen sind es auch"?

Ich würde das auf jeden Fall kaufen (lacht)! Es gibt ja auch schon Pechkekse statt Glückskeksen. Je mehr Leuten ich von den "Sei glücklich"-Tees und den Duschbädern erzählt habe, desto deutlicher wurde, dass das viele Menschen nervt. Weil da immer dieses "Du musst" ist, eine Kultur des Kommandos. Und man will nicht immer irgendwas müssen. Ich will gar nicht die beste Version meines Selbst sein, ich will einfach nur hier sitzen.

Es darf ja heute niemand nur noch mittelgut sein . . .

Der Zwang des Positiven hat unseren Normalstandard so verschoben: Inzwischen ist total unnormal, wenn man mal einen schlechten Tag hat. Aber es gehört einfach dazu, dass man mal schlechte Laune hat. Auch zu Recht, wenn schlimme Dinge passieren - da muss man nicht immer "an sich arbeiten". Das ist das Perfide an der Glücksindustrie, die eine Nachfrage erschafft, die sie dann später bedient, weil sie den Leuten einredet, dass sie grundsätzlich fehlerhaft sind. Und dann müssen sie eben diesen Tee trinken oder dieses Duschbad verwenden oder zum Coaching gehen. Besser wäre es, wenn man ein psychologisches Postwachstum einläuten könnte, die Logik ist dann: Du musst erst mal gar nichts. So eine Art Seelenfrieden durch Stillstand, wie es ja schon die Stoiker propagiert haben.

Sie betonen auch die Wichtigkeit von Ärger und Wut für gesellschaftliche Veränderungen.

Gemeinsames Schimpfen und Ärgern ist eine wesentliche Bedingung für politische Veränderung. Wer schimpft, den stört etwas, und er teilt anderen mit: Es gibt ein Problem. Wenn man an die Französische Revolution denkt, da war es nicht so, dass die Leute dachten, ach, da muss ich jetzt noch mal achtsam einen Tee trinken und Yoga machen. Die Menschen waren wütend, zu Recht, und haben sich über ihre Wut zusammengefunden und eine ganze Revolution begonnen. Diese negativen Gefühle haben eine wichtige Berechtigung. Was im Umkehrschluss nicht heißt, dass Wut immer berechtigt ist, das muss man auch abgrenzen von den Wutbürgern im rechtsfreien, wissenschaftsfeindlichen Raum. Aber Wut ist ein wichtiger Motor, um ins Handeln zu kommen.

Polemische Frage: Denken Sie, der Ukraine-Krieg wäre zu verhindern gewesen, wenn ein paar Menschen weniger positiv gedacht hätten?

Vielleicht wäre es so, wir waren zu positiv, zu sehr im Glauben, dass alles so bleibt, wie es ist. Pandemien, Rohstoffkrisen, all das trifft uns immer so stark, weil wir uns nicht richtig auf negative Trends vorbereiten. Ich will nicht altklug klingen, aber es wäre sicher auch in Zukunft hilfreicher, wenn man negative Folgen antizipiert - die Folgen des Klimawandels, die nächste Pandemie - und nicht in einer Selbsttäuschung verharrt und sich denkt, ach das wird schon alles gut werden. Die Probleme lösen sich nicht von selbst. Eine Kultur des Negativen für sich nützen, heißt: Ich bin realistisch, ich bereite mich vor, was nicht heißt, dass man in Angst verfällt - aber dass man sich auf Worst-Case-Szenarien vorbereitet. Und wir haben verlernt, in Worst-Case-Szenarien zu denken.

In den Sozialen Medien kamen schon am zweiten Tag der Invasion in der Ukraine gute Ratschläge, wie man sich vor den Kriegsbildern "schützen" könne. Ist diese Selfcare-Attitüde gerade jetzt und in Anbetracht der Menschen, die das auf den Bildern Gezeigte wirklich erleben, nicht einfach nur zynisch?

Ich verstehe, wenn einigen das zu viel ist, man muss das auch nicht dauernd aushalten. Aber dann gleich mit Selfcare anzukommen und zu sagen, ich schaue jetzt gar keine Nachrichten mehr, dieser Rückzug ins Unpolitische ist nicht gut. Man muss eine Balance finden, das ist schwierig, jeder hat andere Grenzen, jeder lernt gerade, damit umzugehen. Viele Menschen trifft das jetzt auch, weil sie zum ersten Mal mit Leid konfrontiert sind, weil sie in so einer Wohlfühlblase gelebt haben. Wenn es in deinem Leben immer nur um Hygge, Selfcare und Pudding geht, bist du natürlich verwirrt, du hast kein Werkzeug, um mit dem existenziellen Leid im Leben umzugehen. Was ich auch ganz besonders schlimm fand, war schon wieder dieser Ansatz: "Du musst jetzt das Positive am Krieg sehen." Ich dachte, das kann doch nicht wahr sein. Das Positive am Krieg sei, dass nun die Energiewende schneller kommt. Diese Besessenheit - wir können es nicht lassen, alles umzudeuten! Was für eine Perversität das eigentlich ist! An einem Krieg ist nichts gut, da kann man nichts umdeuten.