Der Kapitalismus ist schuld an Hunger und Armut, an steigender Ungleichheit, an Konsumexzessen, an Umweltzerstörung, Klimawandel und Kriegen. Im Kapitalismus zählen nur Profit und Gier, Menschlichkeit und auch die Demokratie werden von ihm ausgehöhlt und letztlich gefährdet. So ist das jedenfalls tagtäglich in Zeitungskommentaren, Fernsehberichten und nicht zuletzt in den Sozialen Medien zu lesen und zu hören. Schon österreichische Schulbücher transportieren diese Botschaft immer wieder. Es gibt vermutlich keine andere gesellschaftlich-ökonomische Ordnung, deren Image dermaßen schlecht ist wie der Kapitalismus.
Die Faktenlage
Was insofern etwas überraschend ist, als keine andere Form des Wirtschaftens auch nur annähernd so vielen Menschen so viel Wohlstand gebracht hat wie der Kapitalismus, während sämtliche Versuche, eine Alternative dazu auszuprobieren, krachend kollabiert sind, allen voran und immer wieder der Sozialismus in all seinen Spielarten. Warum die Kapitalismuskritik nicht abbricht, obwohl die Faktenlage klar ist, und warum sie im Kern völlig falsch liegt, hat der deutsche Historiker Rainer Zitelmann in seinem jüngst erschienenen Buch "Die 10 Irrtümer der Antikapitalisten" klar und gut verständlich herausgearbeitet.
In den ersten zehn Kapiteln des Buches zerlegt er die gängigsten zehn Vorurteile - von "Kapitalismus verursacht Hunger" bis "Kapitalismus führt zum Krieg" mit durch und durch überzeugenden Argumenten. Darauf folgt ein zweiter Akt, in dem der Autor mit den Alternativen ins Gericht geht: "Sozialismus sieht auf dem Papier immer gut aus - außer, wenn es ein Geschichtsbuch ist." Der dritte und letzte Teil berichtet von den Ergebnissen einer Meinungsumfrage, die exklusiv für das Buch von den deutschen Instituten "Allensbach" und "Ipsos Mori" durchgeführt worden ist mit dem Ziel, die Einstellung der Bevölkerung in Europa gegenüber dem Kapitalismus zu vermessen.
Das Ergebnis ist gerade für Österreich blamabel bis verheerend, der Kapitalismus ist hierzulande etwa so angesehen wie Drogenhandel oder Kaufhaudiebstahl. Nur 11 Prozent halten ihn für jenes "besonders effiziente Wirtschaftssystem", das er ja tatsächlich ist; wohingegen zum Beispiel 39 Prozent meinen, er führe zu "mehr Ungleichheit". Was übrigens ein besonders törichtes Argument ist. "Ich glaube, dass Ungleichheit per se überhaupt kein Problem ist", sagt der Autor. "Man kann das gut am Beispiel China demonstrieren. Wenn Sie den Gini-Koeffizienten nehmen, mit dem Ökonomen die Ungleichheit messen, ist die Ungleichheit in China heute sehr viel größer als zu Maos Zeiten. Damals war vielleicht Mao selbst Millionär, aber es gab keinen einzigen Milliardär. Heute gibt es in China 700 Milliardäre, so viele wie in den USA. Die Ungleichheit ist also gestiegen. Aber gleichzeitig ist der Anteil der Armen von 88 Prozent im Jahr 1981 auf heute unter ein Prozent zurückgegangen."
Verschwörungstheorien
Was nicht nur für China gilt: "Noch vor 200 Jahren (als der Kapitalismus entstand, Anm.) lebten 90 Prozent der Menschen in extremer Armut. Heute sind es unter 10 Prozent, und gleichzeitig ist die Zahl der Reichen extrem gestiegen. Für mich ist Armut ein Problem, nicht Ungleichheit. Letztere ist nur ein Thema für Neider." Dass Kapitalismus die Umwelt ruiniert, ist für Zitelmann auch so ein Vorurteil, dass durch stetige Wiederholung nicht an Faktizität gewinnt. Denn wissenschaftlich eindeutig nachweisbar ist, dass es einen starken Zusammenhang zwischen der Umweltqualität einerseits und andererseits der marktwirtschaftlichen Orientierung von Staaten gibt - salopp gesagt: je kapitalistischer, um so umweltfreundlicher. Und zwar, weil "Nachhaltigkeit ausreichenden wirtschaftlichen Wohlstand erfordert, um öffentliche Gesundheit und Umweltinfrastruktur zu finanzieren".
Besonders aktuell ist, rund um die Corona-Krise und den Ukraine-Krieg, der von Zitelmann erhobene Zusammenhang zwischen der Kapitalismuskritik und der Neigung zu Verschwörungstheorien. Dazu wurden in der Umfrage zwei Theorien abgefragt, die typisch sind für Weltverschwörungstheoretiker: "Die Politiker entscheiden in Wahrheit gar nichts. Sie sind Marionetten von mächtigen Kräften im Hintergrund", und: "Vieles in der Politik kann man nur richtig verstehen, wenn man weiß, dass ein größerer Plan dahintersteht, den jedoch die meisten Menschen nicht kennen." Das interessante Ergebnis: Kapitalismuskritiker bejahten diese Aussage deutlich stärker als Anhänger des Kapitalismus.
Was aber vielleicht einfach nur eine Frage der Intelligenz sein könnte.