Es ist überraschend, dass nach vielen Jahren mit dem Hamburger Michael Kellner wieder ein deutscher Kenner der Werke des US-amerikanischen Dichters Allen Ginsberg (1926-1997) die Aufgabe übernommen hat, aus dem sehr umfangreichen und auch vielfältigen Werk des Mit-Begründers der Beat Generation zwei repräsentative Bände mit Prosa und Lyrik herauszugeben.
Auffallend ist, dass die Publikation fast zeitgleich mit zwei neuen Ausgaben der Romane von Jack Kerouac (1922-1969) erfolgt, der im März vor hundert Jahren geboren wurde, was auch der Anlass für die seit langem notwendigen Neu-Übersetzungen der Romane "Dharmajäger" und "Engel der Trübsal" war.
Bei Ginsberg jährt sich der 25. Todestag nunmehr am 5. April - und wird wohl auch Anlass für die Herausgabe der zwei Bände gewesen sein. Wie Herausgeber Kellner anmerkt, gab es - abgesehen von einem Auswahlbuch mit mehreren Übersetzern im Jahr 1999 - nach dem Tod Ginsbergs kaum mehr neue deutschsprachige Ausgaben. 2015 erschien allerdings eine präzise zweisprachige Ausgabe des letzten Lyrikbands Ginsbergs ("Death & Fame", posthum 1999 erschienen) unter dem Titel "Tod & Ruhm" im kleinen Verlag Stadtlichter, der seit 2000 eine eigene Bibliothek mit Beat-Generation-Autoren in der Reihe "Heartbeat" veröffentlicht.

Lesern von Ginsbergs Gedichten und seiner Prosa (die vor allem in ausführlichen Briefwechseln und intensiv geschriebenen "Journalen" präsent geblieben ist) stellt sich bei den beiden neuen Ausgaben freilich eine vordringliche Frage: Welche Kriterien bestimmten die Auswahl für die beiden Bände?
Michael Kellner betont in seinen Nachworten zu beiden Büchern den Umfang des Gesamtwerks und hält fest: "...ist nicht mehr als ein Mosaikstein zu Ginsbergs Lebensgeschichte, ein Auszug aus seinem umfangreichen und vielgestaltigen Werk, eine Einführung für alle, die sich mit seinen Prosaarbeiten vertraut machen wollen, die bisher nur in Ausschnitten auf Deutsch vorlagen."
Aber wie sich im Impressum beider Bücher feststellen lässt, folgt diese Auswahl einer Originalausgabe von 2015: "The Essential Ginsberg". Dessen Herausgeber, Michael Schumacher (sic!), war demnach verantwortlich für den umfangreichen Auswahlband, der zeitgleich in New York und London herauskam. Man kann bei der Übernahme dieser Auswahl von möglichen Übersetzungsrechten ausgehen.
Beim Band "Lyrik/Poetry" ist eine Betrachtung und Einschätzung der Auswahl schwierig. Die englisch-deutsche Ausgabe umfasst in diesem Format etwa 130 Seiten an originalen Gedichten Ginsbergs, das entspricht rund neun Prozent seines gesamten lyrischen Werks. Manche Schlüsselwerke (etwa "Howl", "Kaddish", "Wichita Vortex Sutra") erschienen seit 1959 in anderen Übersetzungen. Michael Kellner führt an, dass die Einladung an mindestens zwei Generationen von Dichtern und Übersetzern auch deshalb geschah, um die Gedichte Ginsbergs, die heute weltweit zur Moderne des 20. Jahrhunderts zählen, in gegenwärtigem Deutsch lesen zu können.
Das Argument spricht für sich, lässt aber bisher nicht übersetzte Gedichte, vor allem aus den späteren Büchern, unberücksichtigt. Der Lyrikband enthält zwar das jeweilige Entstehungsjahr jedes Gedichts und manch hilfreiche Anmerkungen, aber es fehlen die Hinweise auf die originalen Bücher Ginsbergs, aus denen diese Auswahl getroffen wurde.
Der Band "Prosa" enthält einige Entdeckungen, die übersichtlich nach "Essays, Aus den Tagebüchern, Interviews, Briefe" gegliedert sind. Aufschlussreich für die Entwicklung der "poetischen Sprache" des jungen Ginsberg sind mehrere längere Texte (entstanden zwischen 1956 und 1970), in denen der Dichter die Verwendung der "langen Zeilen" genauer erläutert: Wie er diese Form bei W. Whitman, G. Apollinaire, F. G. Lorca und weiteren Pionieren der lyrischen Moderne (wie W. C. Williams und E. Pound) entdeckte, mit dem Sprechrhythmus und der Kontrast-Bildsprache des Haiku verband und neu gestaltete.
Das lange "Paris Review"-Interview, das der Schriftsteller Tom Clark (später ein bedeutender Biograf von mehreren US-Autoren, darunter Jack Kerouac) 1965 mit Ginsberg führte, enthält ausführliche Passagen über seine frühe Hinwendung zum englischen Dichter, Zeichner und Mystiker William Blake.
1961 erschien der zweite Lyrikband Ginsbergs, "Kaddish" (Name des jüdischen Totengebets), das im titelgebenden Hauptteil ein episches Langgedicht für seine verstorbene Mutter Naomi enthält, das Jahrzehnte später sogar zu Aufführungen in Theatern führte.
Der erste essayistische Text des Prosabands ("Wenn die Musik sich ändert, erzittern die Mauern der Stadt") stammt ebenfalls aus diesem Jahr: "Das Ausmaß an Geplapper und eingebetteten Missverständnissen, das wir erlebt haben - meistens im Namen des guten Geschmacks, moralischer Tugenden oder (die größte Überheblichkeit) zivilisatorischer Werte -, hat mir die Augen geöffnet, was den absoluten Bankrott der Akademie im heutigen Amerika betrifft oder dessen, was sich selbst als Akademie zur Bewahrung der Literatur konstituiert hat. (Geschrieben 1961)"