Es wird wieder ermittelt, im Kosmos des französischen Autors Tanguy Viel. Wie schon in "Selbstjustiz", geht es auch in seinem eben erschienenen Roman "Das Mädchen, das man ruft" um die multiperspektivische Rekonstruktion eines Straftatbestandes. Eines Deliktes, das der Unmoral und Selbstherrlichkeit mächtiger Lokalgrößen entspringt und die alte Frage nach dem Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit aufwirft. Für die hervorragende deutsche Übersetzung zeichnet Hinrich Schmidt-Henkel.

Tanguy Viel, 1973 in Brest geboren, bleibt auch seinem bevorzugten Setting treu. Die Geschichte spielt in der Gegenwart, in einer nicht näher bezeichneten bretonischen Küstenstadt. Hier wuchs die zentrale Figur auf, Laura Le Corre. Ernüchtert von ihren Erfahrungen als Model, kehrt die nunmehr 20-Jährige in ihre Heimatstadt zurück, um neu durchzustarten.
Ihr Vater, der einstmals gefeierte Box-Champion Max Le Corre, arbeitet gerade auf seine "Wiederauferstehung" im Ring hin; sein Brot verdient er derweil als Chauffeur von Bürgermeister Le Bars. Als schillerndes Bindeglied in dieser Figurenkonstellation fungiert Bellec. Seinerzeit Manager des Boxers, führt er nun das Casino, gleichsam als zweites Machtzentrum der Stadt. Zum Bürgermeister steht Bellec in einem "gegenseitigen Vasallenverhältnis", das auch von Relevanz für Lauras Schicksal werden sollte.
Tagtäglich beobachtet Chauffeur Max den Stadtvater im Rückspiegel. Schon glaubt er, "sämtliche Nuancen und Brüche dieses Blicks aufzuspüren". An dieser Stelle mengt sich der Autor als Kommentator ein: "... eher nicht Brüche, sondern ganz bewusst gesetzte Öffnungen, da ja die Macht angeblich nicht auf Starre gründet, sondern stattdessen auf deren kalkuliert eingesetzter Aufweichung (...), eine Fallgrube aus falscher Sanftheit". Max geht dem Mienenspiel auf den Leim. Als er den Moment für günstig hält, bittet er seinen Chef um einen kleinen Gefallen: Seine Tochter Laura suche eine Wohnung. Damit stößt er ein perfekt geöltes Räderwerk an, und das Verhängnis nimmt seinen Lauf.
Der Bürgermeister (und spätere Minister) bestellt die schöne Laura ein. Er bedenkt sie mit diesem Lächeln, das die Menschen gerne glauben macht, "dass er sie liebte, es sei denn, ja, auch das war möglich, dass er vor allem sich selbst liebte, wenn er sie liebte". Tanguy Viel wechselt meisterlich zwischen diesem fein ziselierten Andeutungsstil des auktorialen Erzählers und den registerreichen Dialogen seiner Figuren, zwischen Relativierung und hartem Klartext. Auch der nonverbalen Kommunikation gilt sein Augenmerk - den unvollendeten Sätzen, den abseitigen Winkeln einer Rede, dem Ungesagten: Ganz ohne Worte nötigt der Stadtvater der Wohnungswerberin ein "Arrangement" ab, das sie letztendlich den Weg zur Polizei einschlagen lässt.
Entlang der behördlichen Anzeigenaufnahme entrollt Viel eine Geschichte über Machtmissbrauch, Verführbarkeit und Abhängigkeit; über Rebellion und Rache, und nicht zuletzt über die schillernde Rolle der Boulevardpresse. Der Leser gerät in den Sog eines kriminalistisch aufbereiteten Sittenbildes, reich an Psychogrammen und cineastischen Effekten. Das Tableau ist zudem durchzogen von einem Netz aus Metaphern und Vergleichen, die das Erodieren von Identitäten und das Zementieren von Machtstrukturen kontrastvoll ins Bild setzen.