Er heißt Victor Stoica, ist 1932 in Bukarest geboren, wo er noch 1989 mit Frau und Tochter lebt, als er von den jüngsten Nachrichten erfährt: "Genscher hat gestern in der westdeutschen Botschaft in Prag den Ostdeutschen, die dort ausharren, freies Geleit in den Westen zugesichert."

Victor hat schon so einiges erlebt, verbrachte acht Jahre hinter Gittern - im kleinen Gefängnis des großen, in einer Zelle, die das kommunistische Regime für ihn vorgesehen hatte. Sein Vorrat an Hoffnung ist längst aufgebraucht, durch falsche Versprechungen, Verrat und Entbehrungen aufgerieben worden. Es ist dem Vater nicht möglich, die Euphorie der Tochter zu teilen: "Wir sind keine Ostdeutschen, wir haben keinen Genscher."

Als man Victor 1957 wegen (vermeintlicher) Regimeuntreue einsackte und weggesperrte, wurde ihm prophezeit, er sei gekommen, um zu sterben. Am selben Tag nahm er sich vor, zu überleben, aus Trotz, genährt auch von Hass und Vergeltungsfantasien; der ehemalige Geschichtsstudent machte sich klein, so gut es ging, doch er ließ sich nicht brechen. Es ist diese Haltung, die dem Schneider Stoica, zu dem er nach der Zeit in der Haft wurde, seinen Vornamen gibt. So sehr Victor desillusioniert sein mag, er steht als "Sieger" auf dem Platz - in seiner Stadt, in seinem Leben.

Nachgerade köstlich die Geschichten eines Mitgefangenen, der zuvor als Koch gearbeitet hat, wie er seinen Leidensgenossen
in der Zelle den ungenießbaren Gefängnisfraß zu Gaumenfreuden verwandelt. Lustvoll und virtuos zugleich, wie sich Victor mit seiner Familiengeschichte revanchiert.

"Erzählen und erzählen lassen", das ist das Rezept, welches der Schriftsteller Catalin Dorian Florescu seinem nunmehr siebten Roman verschrieben hat. Es sind die Geschichten, die Victor zugetragen werden, die er tatsächlich oder in seiner Vorstellung miterlebt, und es ist seine Geschichte als Nachfahre einer Feuerwehr-Dynastie, die dem Roman den Titel gibt: "Der Feuerturm".

Erbaut 1892, und damals mit gut fünfzig Metern das höchste Gebäude der Stadt, steht dieser Feuerturm noch knappe hundert Jahre später, wenngleich in der Funktion eines Museums, in Bukarest - als Magnet und Epizen-trum von Victors Leben, als Sehnsuchts- und als Zufluchtsort. "Kein Mensch hat je den Horizont gesehen", so die nüchterne Perspektive von der Aussichtsplattform, die Einbildungskraft aber eröffnet den Blick zum schiefen Turm von Pisa, zum Eifelturm, reicht gar einmal um den Planeten herum - und durch alle Zeit. Es ist das Vorstellungsvermögen Viktors, das Vergegenwärtigung leistet, es ist die Meisterschaft Florescus, die Leserinnen und Leser diese Räume mit allen Sinnen betreten lässt.

"Der Feuerturm" ist - geht es darum, die Geschichte Rumäniens des vergangenen Jahrhunderts nachlesen zu wollen - vielleicht so etwas wie das Gegenteil von Wikipedia. Es geht hier nie um Abstraktion, um Synthesen oder um Kategorien, Florescu fasst nicht zusammen - er entfaltet vielmehr, bleibt immer nah am Menschen, erweckt Charaktere zum Leben und zeichnet dabei Schicksale mit Hingabe, mit größter Zuneigung.

So düster die Zeiten auch sind, die in diesem Roman geschildert werden, es bedarf keinerlei Trigger-Warnungen, der Vermerk "sehr lesenswert" reicht völlig aus. Und wer weiß, womöglich wagt sich Victor Stoica im Jahr 1989 ja doch noch aus dem "großen Gefängnis" hinaus ...