Eigentlich ist es ja ganz einfach: Stephen Crane war ein herausragender amerikanischer Erzähler um die vorletzte Jahrhundertwende, der bis zu seinem frühen Tod 1900 sehr viel Beachtenswertes geschrieben hat, das in den USA zuletzt nur mehr wenig und bei uns fast gar nicht zur Kenntnis genommen wurde. Also setzte sich sein mehr als ein halbes Jahrhundert später geborener Kollege Paul Auster, weltweit beinahe so bekannt wie die Hundert-Dollar-Note, in seinen Siebzigern hin und würdigt das halbvergessene Erzählervorbild durch eine Biographie - die nun wie ein zentnerschwerer Ziegelstein vor dem Leser liegt.

Lockt das zur Wiederentdeckung des Halbvergessenen? Die Antwort muss unbedingt Ja lauten: Weil der Name Paul Auster zu Recht Aufmerksamkeit erhält. Und weil der Name Stephen Crane es zu Recht wert ist.

- © Rowohlt
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Dieser Stephen Crane lebte beim letzten Flackern des 19. Jahrhunderts und schrieb in seinem knappen, gewichtigen Werk für die amerikanische Literatur die literarische Moderne herbei. Aufgewachsen als jüngstes von insgesamt vierzehn Kindern in einer schreibseligen methodistischen Pfarrersfamilie, gilt für den 1871 geborenen Autor die Bemerkung seiner Nichte: "Als einem Crane floss von Geburt an Druckerschwärze in seinen Adern."

Auster wird zum Reiseleiter für eine Lektürefahrt durch Cranes Werk. Man lässt sich mit ansteigender Begeisterung auf die Vielzahl an Romanen, Erzählungen, Novellen, Kurzgeschichten und literarischen Reportagen ein. Und man staunt über die souveräne Bildermacht von Cranes Sprache und seine scharfsichtigen Milieuschilderungen.

Sozialreportagen

Schon in den ersten skizzenhaften Erzählungen des erst 18-Jährigen finden sich jene atmosphärisch dichten Bilder, mit denen er etwa der Natur die Stimmung einer abendlichen Dämmerung entreißen konnte: "Die sterbende Sonne entfachte einen blassvioletten und flammenfarbenen Tumult am Horizont, und als sie endgültig versank, streiften hochrote Strahlen die Bäume. Und mit dem Schwinden des roten Scheins schlichen Heere von Schatten heran." ("Killing His Bear")

Das Frühwerk "Maggie", "eine schonungslose, halluzinatorische Darstellung der New Yorker Slums" (Auster), schildert am Beispiel einer zwischen Arbeitslosigkeit und Alkoholismus zerrütteten Familie die ausweglosen Zustände in den Elendsvierteln der Bowery, die schließlich die Tochter Maggie in die Prostitution treiben. Für das Buch, das ein zeitgenössischer Kritiker "erbarmungslos realistisch" nannte, fand sich kein Verleger, es musste zunächst im Privatdruck erscheinen.

Stephen Crane, porträtiert vom Lundelius studio, New York. 
- © Lundelius studio, NY / Public domain / via Wikimedia Commons

Stephen Crane, porträtiert vom Lundelius studio, New York.

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Um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, schrieb Crane Reportagen. Mindestens einmal geriet er dabei als politischer Berichterstatter in eine vehemente persönliche Bredouille. Im August 1892 verlor er seinen Job als Kolumnist der landesweit führenden republikanischen Zeitung "New York Tribune", als er mitten in einem Wahlkampf einen Artikel gegen den martialischen Aufmarsch einer republikanischen Wahlkämpfer-Organisation vor der männlichen Einwohnerschaft der Kleinstadt Asbury Park verfasste:

"Der echte Asbury Parker verwirft beim Anblick eines Dollars jeden Gedanken daran, dass auch andere Menschen Rechte haben könnten. Er neigt zu der Ansicht, Männer und Frauen seien dazu erschaffen, von ihm ausgenommen zu werden. Weshalb die gebräunte, wettergegerbte Ehrlichkeit der Mitglieder des Junior Order of United American Mechanics einen schier überwältigenden Eindruck auf ihn machen dürfte. Die Besucher waren Männer mit Prinzipien."

Auch Cranes Bruder Townley wurde, als der verantwortliche Redakteur, umgehend gefeuert. Immerhin gehörte die "Tribune" dem Diplomaten Whitelaw Reid, der im November 1892 an der Seite des Republikaners Benjamin Harrison für das Amt des US-Vizepräsidenten kandidierte - und dem Demokraten Adlai Stevenson unterlag, der mit Präsident Grover Cleveland ins Weiße Haus einzog. Jahre später noch schrieb Reid, Stephen Crane "war der Mann, der mich die Vizepräsidentschaft gekostet hat".

Macht der Elemente

Es dauerte eine beträchtliche Weile, ehe Crane wieder Zugang zu einer der New Yorker Zeitungen erhielt. Doch in Edward Marshall, dem Herausgeber der Sonntagausgabe der "Press", fand er jenen großzügigen Arbeitgeber, der vor allem von Cranes aufrüttelnden Sozialskizzen über die Elendsquartiere der Stadtstreicher und Obdachlosen in den New Yorker Slums sehr angetan war.

Stephen Crane auf einem Foto von 1896. 
- © ullstein bild / Granger, NYC

Stephen Crane auf einem Foto von 1896.

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Eine der folgenreichsten verfasste Crane als freiwillig Beteiligter mitten im heftigsten Schneesturm, der Ende Februar 1894 über Manhattan hereinbrach und dem er stundenlang, nur leicht bekleidet, standgehalten hatte. "Die Männer im Sturm" wurde einer seiner mitreißendsten Berichte, doch die Leichtfertigkeit des 21-jährigen bei der Recherche mantellosen Autors trug wesentlich zur Zerrüttung seiner Gesundheit bei.

Das Gegenteil eines Blizzards - einen Feuersturm - vermag Crane, wie Auster begeistert anführt, mit derselben sprachlichen Dramatik und stilistischen Genauigkeit dem Leser nahezubringen: "Die Flammen schlugen empor wie angefacht von Sturmbrausen, getrieben von mächtiger, unerbittlicher Gier, grell, grimmig und gnadenlos, und leuchteten in den Augen der Menge, die in einer Ekstase aus Scheu und Furcht und auch halb barbarischer Bewunderung auf sie gerichtet waren. Sie spürten die Hilflosigkeit der Menschen im Angesicht der Natur, die sich ungezügelt Bahn bricht, alle Hindernisse überrennt und sich mit einem Satz aus der Stellung eines Sklaven in die eines Herrschers aufschwingt, eines Riesen." ("The Fire")

Mit den Folgen der Macht des Feuers setzt sich auch die Novelle "Das Monstrum" auseinander, die als sanftes Genrebild einer Sonntagsgesellschaft in einem Kleinstadtpark beginnt und sich zur Horrorgeschichte der Verfemung eines schwarzen Lebensretters auswächst. Der hatte sich beim Brand eines Hauses als Einziger in die Flammen gestürzt, um ein Kind heil herauszutragen, und muss nun bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet weiterleben. Die Kleinstadtgesellschaft indes will sich vom Anblick des "Monsters" befreien und grenzt den Vater des geretteten Kindes, der den Schwarzen aufgenommen hat, aus der Gemeinschaft aus: Die leibhaftige Barmherzigkeit wird zum Paria im christlichen Amerika.

- © Pendragon
© Pendragon

Im Mai 1894 berichtete Crane über die Zustände in den Kohlengruben von Pennsylvania - und war ebenso entsetzt über die unmenschlichen Arbeitsbedingungen wie über die miserable Entlohnung. Er schloss seine Reportage mit einer unmissverständlichen Anklage: "Man braucht nicht oft in ein Bergwerk einzufahren, um sich zu fragen, warum die Kohlenbarone so viel bekommen und diese Bergarbeiter, Tag für Tag vom grimmigen schwarzen Maul der Erde verschlungen, im Verhältnis dazu so wenig."

Berühmt wurde Crane 1895 schlagartig und für Jahrzehnte auch über seinen frühen Tod hinaus mit einem einzigen Werk: der ebenso aufwühlend sensorischen wie schonungslos wirklichkeitsnahen Bürgerkriegsimagination "Die rote Tapferkeitsmedaille", die 1895 so eindringlich aufschlug, dass zahllose Leser nicht glauben mochten, der Verfasser sei kein Veteran der Nordstaatenarmee.

Antikriegsroman

Darin muss der junge Rekrut Henry Fleming, der als Freiwilliger kriegsbegeistert ins Feld gezogen war, durch die blutigen Erfahrungen an der Front erkennen, dass er nur hier war, "um sich wie ein Tier abschlachten zu lassen". Er versucht verzweifelt zu fliehen, kehrt indes bald wieder in die Schlacht zurück. Die literarisch herbeibeschworene Imagination des von Schrecken und Grausamkeit erfüllten Lebens auf dem Schlachtfeld geriet zum fulminanten Antikriegsroman, erstmals geschrieben ganz aus der Sicht des leidenden Soldaten. Crane selbst nannte sein noch lange vor dem doppelten Weltkriegsinferno des 20. Jahrhunderts geschriebenes Werk mit Recht ein "psychologisches Porträt der Angst".

- © mare
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Crane war ein Abenteurer und Haudegen der literarischen Reportage. Was dieser Schriftsteller in seinem kurzen Leben alles erfahren und geschrieben hat, geht ins kaum Ermessliche. Das einschneidendste Erlebnis ereilte ihn, als er am Silvesterabend 1896 als Kriegsberichterstatter auf einer Schiffspassage nach Kuba übersetzen wollte. Am 2. Jänner sank der Dampfer "Commodore" vor der Küste Floridas plötzlich, und Crane fand sich mit drei Männern in einem kleinen Rettungsboot wieder, das dreißig Stunden lang mit dem hohen Wellengang zu kämpfen hatte.

In der Meistererzählung "Das offene Boot" schildert er eindringlich die Umstände der Rettung. Und wieder beginnt er mit Farben: "Keiner von ihnen hatte Augen für die Farbe des Himmels. Ihr Blick war waagrecht auf die heranrollenden Wellen gerichtet. Die waren schiefergrau, bis auf die weiß schäumenden Kämme, und die Männer hatten nur Augen für die Farben der See."

Früher Tod

Nach Kuba kam Crane doch noch, als Reporter während des Spanisch-Amerikanischen Kriegs 1898. Zuvor aber ließ er sich vom Hearst-Pressekonzern nach Griechenland schicken, wo 1897 auf Kreta der Krieg der Türken gegen die Griechen wütete. Mit dabei war Cranes Lebensgefährtin Cora Taylor, eine ehemalige Nachtklubbesitzerin, die sich nun gleichfalls erfolgreich als Kriegsberichterstatterin verdingte. Die beiden ließen sich schließlich in England nieder, wo Cora auf die Scheidung von ihrem Ehemann wartete.

Crane schloss Freundschaft mit dem polnischen Engländer Joseph Conrad, einem "Schwierigen" im Menschenumgang, und mit dem großen Amerikaner Henry James, die beide in der südenglischen Nachbarschaft lebten. Doch Cranes schwächliche Konstitution erlag nach der Rückkehr aus der Karibik der Tuberkulose. Im deutschen Kurort Badenweiler am Rande des Schwarzwalds starb er, nur 28 Jahre alt, am 5. Juni 1900.

Paul Austers voluminöse Auseinandersetzung mit Cranes Leben und Werk ist die Hommage des berühmten US-Erzählers an sein großes Vorbild. Das Crane’sche Oeuvre habe "unseren Blick auf die Welt durch die Linse des geschriebenen Worts von Grund auf verändert", schreibt Auster. Dank zahlreicher neuer Übersetzungen hat auch die deutschsprachige Leserschaft nun ausgiebig Gelegenheit, dieses Urteil zu überprüfen.