Thomas Stangls jüngster Roman - sein sechster - ist so sehr kein Roman, dass es schon wie eine Provokation anmutet. Will Stangl solchermaßen demonstrieren, wie sehr er literarische Kategorien und Konventionen, insbesondere die der linearen Erzählung, verachtet beziehungsweise deren Untauglichkeit vorführen?
Wie auch immer: An einer Stelle im Buch beschreibt er, was er mit "Quecksilberlicht" anstelle eines gewöhnlichen Narrativs intendiert haben will: "Ein Buch über alles im Himmel und auf Erden schreiben, aufgesammelte Geschichten und Erfahrungen, ein Buch über chinesische Kaiser, englische Dichterinnen, Großmütter, Nazis, Hinterhöfe, das Feuer und die Leere, die Toten und ihr Geschrei, die Literatur und London und mich und sich selbst. Über das Leben und den Tod, von beiden Seiten her, aus dem Inneren der Gruft, übers Bett gebeugt, aus den Seiten der Bücher heraus, unter dem stinkenden Himmel."
Es stinkt übrigens ziemlich viel und oft in diesem Buch: Zweitaktmotoren, Pferdemist, "der Geruch nach Blut, Schweiß und Scheiße im Schlachthof", die Düfte aus Küchen und Gang-WCs in Bassena-Wohnungen besorgen die olfaktorische Dramaturgie.
Trügerische Sinne
Grob überschlagen verfolgt Stangl drei Hauptstränge: die britischen Schriftsteller-Geschwister Charlotte, Emily, Anne und Branwell Brontë, den grausamen chinesischen Kaiser Qin Shihuangdi und seine eigene Familiengeschichte. Zwischendurch bringt er sich selbst, sein Schreiben und seinen Zugang zu Literatur ein. Ein "Ich" im Text meint indessen nicht notwendigerweise immer den Autor: Es kann auch eine/r von den Brontës, der chinesische Kaiser oder ein familiärer Vorfahre sein, deren/dessen Identität sich Stangl in einer Art Übersprungshandlung gerade bemächtigt (oder die/der sich Stangls bemächtigt).

Wie praktisch alle größeren Werke Stangls steht "Quecksilberlicht" im Zeichen seines grundsätzlichen Themas: der Brüchigkeit der menschlichen Wahrnehmung, der Unzuverlässigkeit, bisweilen buchstäblichen Un-Fassbarkeit von Sinneseindrücken. Regelmäßig eingestreute Episoden eines alten Paares, dessen Dialoge wachsende Entfremdung voneinander und möglicherweise auch der Außenwelt indizieren, zeugen ebenso von Verschiebungen zwischen (vermuteter) Realität und ihrer Wahrnehmung durch Verstand und Sinne wie der bizarre Allmächtigkeits- und Unendlichkeitswahn des Herrschers Qin Shihuangdi. Aber selbst dem eigenen Alltagserleben traut der Autor nicht vorbehaltlos.
Was als eine Art tragende Achse auszumachen ist, ist der Tod. Das Buch beginnt mit Stangls Großmutter als 13-Jähriger, die, eben über das Ableben ihres Vaters informiert, schreiend aus dem Haus läuft. Darauf baut Stangl, etwas willkürlich, wie er selbst einräumt, seine eigene Geschichte, in deren Verlauf er räsoniert:
"Wer war meine erste Tote, mein erster Toter? Die langlebige Großmutter, die sich selbst verloren ging und um die ich jahrelang Angst hatte? Oder dieser Großvater, der an einem Samstag im Frühjahr 1972 starb, einem sonnigen, warmen Tag, ich übte gerade das Fahrradfahren, als meine Mutter den Anruf vom Krankenhaus Rudolfstiftung erhielt und weinend aus dem Haustor kam."
Die Geschwister Brontë, insbesondere Emily und Branwell, geleitet er, ständig Bezüge zu ihrem Werk herstellend, in ihr Ableben, das sich bei den Frauen als schrittweiser Transformationsprozess von körperlicher Hinfälligkeit zu phantastischer Produktion, bei Branwell allerdings als ohnmächtiges Aufbegehren darstellt.
Bei Kaiser Qin Shihuangdi offenbart sich das absurde Dilemma des absolutistischen Herrschers: Er kann nach Belieben über den Tod anderer Menschen verfügen - über den eigenen Tod hingegen hat er kein Kommando. Um seine Sterblichkeit zu überwinden, nimmt er auf Anraten seines Kanzlers Quecksilber zu sich und stirbt genau daran.
Fremdes Milieu
Der andere tiefer in die Geschichte eingewobene Leitfaden in dieser losen, scheinbar sprunghaften Verknüpfung von Handlungssträngen aus verschiedenen Epochen sind Bücher: Die Geschwister Brontë haben Bücher geschrieben, Qin Shihuangdi hat sie verbrennen lassen, da sie zu viel ihm gefährliches Wissen enthielten, Stangls Großmutter hat sie gern gelesen, konnte dieser Passion aber milieubedingt nicht weiter folgen. Ihr Enkel macht ihr Verfassen zum Beruf - aber er fühlt sich ebenso wenig heimisch im ihnen übergeordneten Soziotop:
"Ich bin so wenig in der Kultur zu Hause wie meine Großmutter es war, ich kann immer nur so tun, als ob, alles, was ich schreibe, atemlos, ist einen Hauch außerhalb meiner Reichweite. Ich bin auch in meinem wirklichen Leben nicht zu Hause, ich schreibe und schaue aus dem Fenster. Ich schreibe und ich bin in der Sprache nicht zu Hause, aber ich schaue auf die Wörter und bewundere die Wörter, die in den Sätzen zu Hause sind, in diesem kleinen, umschränkten Bereich, diesem schillernden weißen Zimmer."