Glaubt man der Soziologie, so leben wir in einer Erbengesellschaft. Noch nie wurden so große Vermögen an die nachfolgende Generation weitergegeben, und diese Erbmasse trägt zur ökonomischen Spaltung der Gesellschaft bei. Wer viel erbt, dem eröffnen sich ungeahnte Möglichkeiten, etwa beim Immobilienerwerb. Wer nichts erbt, der ist auf die eigene Leistung und Arbeit angewiesen.

Zur letzteren Gruppe gehört auch Lukas Bärfuss. Von seinem Vater jedenfalls ist nichts geblieben als eine schnöde Bananenschachtel: "Sie war das einzige Zeugnis eines Mannes, von dem es hieß, er sei mein Vater gewesen. Wie die meisten Menschen meiner Kindheit war er fast spurlos verschwunden."

Der 1971 geborene Lukas Bärfuss stammt aus wirklich allerärmlichsten Verhältnissen. Einen Teil seiner Jugend hat er obdachlos auf der Straße verbracht, er hat als Tabakbauer, Gabelstaplerfahrer und Eisenleger gearbeitet, und nur mit viel Glück ist er nicht wie sein Vater im Gefängnis gelandet. Erst mit der Literatur, zunächst als Buchhändler, dann als Schriftsteller, findet er etwas, das ihn begeistert und schließlich auch ernährt.

Als der wohnsitzlose Vater verarmt und einsam stirbt, weilt der Sohn gerade irgendwo in Afrika, es ist noch die Zeit der Faxgeräte, und so kann er sich erst nach ein paar Wochen auf die Suche nach der Urne machen, um sie - gerade einmal vier Personen nehmen Abschied - beisetzen zu lassen. Das Erbe, das nur aus Schulden besteht, schlägt er natürlich aus.

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"Vaters Kiste" ist zunächst einmal eine Herkunftsgeschichte, oder genauer: eine Geschichte von der Unmöglichkeit, der eigenen Herkunft zu entkommen. Dieses Genre ist jüngst erst mit dem Nobelpreis für Annie Ernaux geadelt worden, und auch Lukas Bärfuss demonstriert eindrucksvoll, welch literarische Wucht eine solche Erzählung entfalten kann.

Die Kiste des Vaters, die im Grunde nichts weiter enthält als Dokumente eines finanziellen Elends, wird zur Keimzelle dafür, als Schriftsteller die eigene Geschichte zu schreiben. Zumindest ansatzweise. "Manche Kisten öffnet man nicht einfach so, und ein Widerwille gegen die Herkunft befiel mich - nicht gegen meine eigene, nein, gegen die Idee der Herkunft als solcher, diese Obsession, sich über seine Vorfahren zu definieren."

Dieser Drang zur Generalisierung hat zur Folge, dass dieser Text nach gut vierzig Seiten in einen philosophisch-politischen Essay mündet, der sich dem Themenkonglomerat aus Familie, Herkunft und Erbrecht widmet. Das liest sich wie immer beim Essayisten Bärfuss anregend, mitunter etwas sprunghaft, aber durchaus meinungsstark. Aufgefahren wird großes Theoriegeschütz: Darwin, Wittgenstein, Lévi-Strauss.

Am Ende plädiert Bärfuss dafür, ererbte Privatvermögen in Gemeingut zu überführen. Das ist nicht wirklich neu, gewinnt aber immerhin dadurch an Plausibilität und Dringlichkeit, dass er diese Frage mit dem Klimawandel und den schmutzigen Hinterlassenschaften heutiger Generationen verknüpft: "Sicher ist: Eine Gesellschaft, die sich der Klimapolitik verschreibt, muss notwendigerweise über den Eigentumsbegriff und das Erbrecht nachdenken."

Mit diesem Buch geht es einem ein wenig wie mit dem Glas, das, je nach Perspektive, halb voll oder auch halb leer ist. Man kann es lesen als etwas unentschlossenen Versuch, aus der eigenen Familiengeschichte allgemeine Prämissen abzuleiten, als merkwürdiges Zwitterwesen, das Erzählung und Essay auf nicht ganz gelungene Weise zusammenführt. Es lässt sich aber auch als erster Versuch lesen, die eigene Herkunft literarisch zu erzählen. Es wäre damit ein Versprechen für die Zukunft, für ein großartiges Buch, das wir hier zumindest schon einmal ansatzweise lesen durften.