"Isoliert kommt der Mensch nie zum Ziele" - vielleicht hatte der alte Goethe ja doch recht. Immerhin zeugt auch der erste Satz in Milena Michiko Flaars neuem Roman, "Oben Erde, unten Himmel", im Rückblick von einer persönlichen Weiterentwicklung: "Ich war gerne allein." Wie die erste Person Präteritum bereits nahelegt und die Autorin im Weiteren ausführt, wird ihre jüngste Hauptfigur am Ende eine andere sein.
Als wir die Mittzwanzigerin Suzu kennenlernen, arbeitet diese nach ersten Jobs als Maskottchen eines Fitnessstudios, als Sicherheitsbeauftrage des Bungeetrampolins in einem Freizeitpark oder als Plakatiererin beinahe solide in einem japanischen Family-Diner. Menschliche Nähe ist ihr unangenehm, Gesellschaft im herkömmlichen Sinn unerwünscht. Abseits der in erster Linie deshalb fordernden Arbeit als Servicekraft findet Suzu ihren vermeintlichen Safe Space im Rückzug.
Einen Schritt weiter
Neben Erinnerungen an zweifelhafte Erfahrungen mit Dating-Apps bleibt der Studienabbrecherin immerhin noch der zu Hause auf sie wartende Hamster, über den sie behauptet: "Aber Punsunke war eben der wichtigste Mensch für mich." Allerdings kommt man des Pudels Kern bereits an dieser Stelle deutlich näher: "Schon der Grund für seine Anschaffung war bezeichnend gewesen. Ich gestand es mir nicht ein, aber ein Teil von mir hatte die ständige Einsamkeit zuletzt nur noch schwer ertragen." Dass Hamster ihrerseits Einzelgänger sind und schließlich auch Punsunke beginnt, sich zurückzuziehen, ist nur konsequent. Tatsächlich scheinen in diesem Roman zunächst hundert Jahre Einsamkeit anzubrechen.
Milena Michiko Flaar ist spätestens seit ihrem im Jahr 2012 erfolgten Durchbruch mit Roman Nummer drei bekannt. "Ich nannte ihn Krawatte", mehr als 100.000 Mal verkauft, führte in die Welt der Hikikomori ein und beleuchtete somit das japanische Phänomen der radikalen Selbstisolation. Mit "Oben Erde, unten Himmel" geht die 1980 in St. Pölten geborene Tochter einer japanischen Mutter und eines österreichischen Vaters jetzt noch einen Schritt weiter. Nachdem Suzu sich nach einem Hoffnung verheißenden Date enttäuscht auf dem modernen Boden der Tatsachen wiederfindet ("Ich war weggeklickt worden. Weggewischt. Weggeworfen"), ist es weniger die Kündigung als Servicekraft, die ihr zusätzlich zusetzt, als vielmehr deren Begründung: "Das Problem ist Ihr mangelnder Liebreiz. (...) Sie haben Ihre Qualitäten, und die erkenne ich an, aber das Entscheidende - ich nenne es das soziale Plus - fehlt Ihnen."
Unter Leichen
Aus den diversen Bewerbungen im Anschluss ist es ausgerechnet der neue Job mit den geringsten Aussichten, das soziale "Minus" umzudrehen, der Suzu ins Leben zurückbringt. Als "Leichenfundortreinigerin" eines auf Kodokushi-Fälle spezialisierten Kleinunternehmens entdeckt die junge Frau nicht nur ihren Gemeinsinn, sondern vor allem auch Empathie als die größte Kraft, mit der man alles schafft. Milena Michiko Flaar wiederum führt erzählerisch feinfühlig an ein weiteres Tabuthema heran, das diesfalls nicht nur in Japan existiert, wo man unter Kodokushi Todesfälle versteht, die lange Zeit unbemerkt bleiben.

Die Leichtigkeit, mit der die Autorin ihre Leserschaft durch die rund 300 Seiten führt, ist nicht zuletzt aus einem Grund erstaunlich: Der aus dem Text strömende Verwesungsgestank samt seinen Maden, Larven und Fliegen setzt nicht nur einen guten Magen voraus - auch gehen einem die von Flaar geschilderten Schicksale erheblich ans Herz. Meist der Zielgruppe männlich, 60 plus angehörend, geht es von Herrn Ono, der die Wohnung für das Reinigungsteam vorsorglich mit Räucherstäbchen aufrüstet, über den geistig beeinträchtigen Sohn eines Alleinerziehers, der Wochen neben der verwesenden Leiche seines Vaters verbringt, bis hin zum Fall einer herzkranken 20-Jährigen auch emotional ans Eingemachte - während Suzu zunächst weniger mit den Arbeitsumständen kämpft, sondern mit den scheinbar banalen sozialen Verpflichtungen, die damit einhergehen.
Ein Besuch ihres erkrankten Kollegen Takada etwa sorgt nicht vordergründig aufgrund der Anreise mit einer Fünf-Kilo-Melone als Genesungsgeschenk für Angstschweiß: "Krankenbesuche gehörten in eine Zeit, in der man sich seitenlange Briefe schrieb. Heutzutage erledigte man so etwas per SMS. Man fragte den Kranken, ob man verbeikommen sollte, und wusste schon im Vorhinein, dass er Nein sagen würde. Man fragte trotzdem, pro forma, weil es nett war, zu fragen. Was aber, wenn er Ja sagte? Ja, bitte komm? Passierte das überhaupt?"
Der Kreis schließt sich
Wie zuletzt vor fünf Jahren in "Herr Kato spielt Familie" ist es aber auch ein generationenübergreifender Aspekt, der Flaars neuen Roman durchzieht. Für seine Lebensgeschichte, die uns über die Firmengründung nach einer ausgewachsenen eigenen Krise - und deren Auswirkungen - informiert, wird mit Herrn Sakai, dem umsichtigen Seniorchef des Reinigungsunternehmens, nicht von ungefähr eine weitere Schlüsselfigur vorübergehend an Suzus Stelle zum Ich-Erzähler.
Am Ende dieses Romans, der seine Wucht aus erzählerischer Zartheit entfaltet, schließt sich ein Kreis. Alles hängt mit allem zusammen, und alles beginnt wieder von vorne. Das Nichts nichtet, der Tod aber kann dem Leben auch neuen Sinn verleihen. Davon berichtet "Oben Erde, unten Himmel" sehr überzeugend.