"Wer in Worms lebt, lebt auf dem Planeten Erde." So lapidar beginnt "Monde vor der Landung", der neue Roman von Clemens J. Setz. Aber schon die folgenden Sätze machen klar, dass jede Regel ihre Ausnahme hat: Setz porträtiert nämlich den einzigen Bürger der alten Stadt Worms, der nicht auf der Erde zu leben meinte, sondern in ihr: "Wo andere Himmel und Sterne sahen, da sah er nur bläuliches Füllgas und bestenfalls apfelgroße Leuchtkörperchen; wo viele die nächste Galaxie vermuteten, da wusste er Australien."

Der merkwürdige Geist, dessen Sichtweise hier skizziert wird, ist keine Kopfgeburt des Romanciers. Er hieß Peter Bender, war Schriftsteller, Sprachlehrer und Verkünder der "Hohlwelt-Theorie". Er lebte von 1893 bis 1944, zunächst im rheinhessischen Dorf Bechtheim, dann die längste Zeit in Worms und schließlich in Frankfurt am Main.

Reinkarnierter Prophet

In seiner Heimat ist Bender nicht ganz vergessen. Im städtischen "Worms Verlag" wurde 2021 sein Roman "Karl Tormann - Ein rheinischer Mensch unserer Zeit" neu aufgelegt. Auch in der lokalen Geschichtsschreibung hat er einen kleinen Platz, weil er im November 1918 dem revoltierenden "Arbeiter- und Soldatenrat" angehörte. Als wortgewandter Redner wurde er zum Vorsitzenden des Rates ernannt, doch nach wenigen Tagen stürzte ihn der realpolitisch versierte Sozialdemokrat Albert Schulte, nach dem heutzutage in Worms ein Park benannt ist.

"Monde vor der Landung" stellt diese Niederlage als wichtigen Schritt auf Benders Weg in esoterische Gefilde dar. 1919 gründete der enttäuschte Volkstribun die "Wormser Menschengemeinde", zu deren Prophet er sich selbst ernannte. Er befasste sich intensiv mit Astrologie und vor allem mit der besagten "Hohlwelt-Theorie", die der amerikanische Arzt Cyrus Teed im 19. Jahrhundert erdacht hatte. Unter dem hebräischen Pseudonym Koresh hatte Teed in Florida eine Gemeinde von Hohlwelt-Gläubigen gegründet, mit deren Vertretern Bender in Briefkontakt stand. Er sah sich als Koreshs Reinkarnation und versuchte in der Nazi-Zeit vergeblich, nach Florida zu emigrieren.

- © Suhrkamp
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Ausführlich folgt Setz den verschlungenen Denkwegen seines Helden, referiert aber auch umsichtig dessen oft sehr trostlose Lebensumstände. Große literarische Sorgfalt verwendet er auf die Ausgestaltung von Benders Kriegserlebnis: Wie viele Männer seiner Generation hatte sich der Student 1914 freiwillig zum Militärdienst gemeldet. Als Leutnant der Luftwaffe erlitt er 1917 bei einem Absturz schwere Kopfverletzungen, deren Spätfolgen Setz sprachmächtig ausmalt: Kopfschmerzen, Schwindelanfälle, epileptische Zustände, Wahrnehmungsstörungen.

Nach seiner Genesung heiratete Bender die Krankenschwester, die ihm während seiner Rekonvaleszenz wie ein Engel erschienen war: Charlotte Asch, die aus jüdischer Familie stammte. Sie ist die zweite Hauptfigur im Roman. Wenn man Setz glauben darf, stand Charlotte Bender unverbrüchlich an der Seite ihres Mannes, trotz all seiner Höhenflüge und Abstürze. Sie sorgte für den Lebensunterhalt der Familie und verkörperte, kurz gesagt, das Realitätsprinzip, während der Gemahl sich in metaphysischen Spekulationen (aber auch sehr irdischen außerehelichen Liebesaffären) erging.

1935 übersiedelte die Familie nach Frankfurt, weil es in der größeren Stadt eher möglich zu sein schien, Charlotte Benders jüdische Herkunft zu verbergen. Wegen Kritik an der NS-Diktatur wurde Bender im März 1943 denunziert und verhaftet. Am 4. Februar 1944 starb er im KZ Mauthausen, seine Frau wurde nach Auschwitz deportiert, wo sich ihre Spur verliert. Sein Sohn und seine Tochter haben die Bedrohungen der NS-Zeit überlebt.

Eigenwillig intelligent

Clemens J. Setz nähert sich dem Leben dieses interessant-wunderlichen Mannes in einer Mischung aus Faktenrecherche und Fiktion. Er zitiert aus Benders Briefen und aus anderen historischen Dokumenten, vergegenwärtigt aber das Welt- und Selbstverständnis seines Helden auch in literarischen Metaphern, die gewiss mehr Setz enthalten als Bender. Das ist sein gutes Dichterrecht. Er hat schließlich keine wissenschaftliche Biographie verfasst, sondern einen Roman. Deshalb steht ihm auch die Freiheit zu, die chronologische Ordnung des Erzählverlaufs mit Rückblenden und Vorgriffen zu unterbrechen.

Der Klappentext des Romans stellt eine Verbindung zur Aktualität her, indem er Benders Weltanschauung als "Querdenkertum avant la lettre" bezeichnet. Das ist nicht ganz abwegig, es bleibt aber festzuhalten, dass Clemens J. Setz den eigensinnigen Weltdeuter Bender nicht ohne Respekt porträtiert. Sein Roman entwirft bei aller Ironie keine Karikatur, sondern das melancholische Porträt eines hochintelligenten, künstlerisch begabten Mannes, der sich in wirren Spekulationen verlor, weil ihn die krisenhaften Zeitumstände daran hinderten, seine Talente sinnvoller zu gebrauchen. Sehr bedenkenswert.