Rausch. Einen Tag, eine Nacht lang. Nicht irgendein Tag: Das Datum, zu dem Raphaela Edelbauer ihre "Inkommensurablen" in Wien zusammenruft, ist der 31. Juli 1914, der letzte Tag also, bevor das Ultimatum des deutschen Kaisers an Russland abläuft und an dem die Stadt in vorweggenommener Kriegseuphorie fiebert.

Oder wie sagt es der Roman? "Was rational noch für eine Nacht herausgezögert wurde, war im Habitus schon beschlossene Sache: ein Volkskörper, ein Kriegskörper (...) Fremde fielen einander in die Arme. Man war endlich nicht mehr man selbst. Man war endlich Österreicher oder sogar Deutsch-Österreicher, und für lange Zeit würde man es nicht mehr aufhören zu sein."

In diese elektrisierte Stimmung hinein kommt der 17-jährige Tiroler Bauernknecht Hans Ranftler mit dem Frühzug angereist: nicht, um sich freiwillig zur Front zu melden, sondern um einer Spur eines Inserats im "Neuen Wiener Tagblatt" zu folgen, mit dem eine Frau namens Helene Cheresch für eine Psychoanalyse in ihrer Praxis geworben hat. Denn Hans ist alles andere als ein tumber Tor vom Land, er ist intellektueller Dilettant und Autodidakt, den eine hellseherische "Gabe" beunruhigt, die er an sich feststellen konnte und mit der er nun, irgendwie, seinen Weg machen will.

Unter Freigeistern

Dass es diesem Hans im Glück nicht nur sogleich gelingt, zur berühmten Dame vorzudringen, sondern dass er ganz buchstäblich auf der Schwelle zu ihrer Praxis auf die fast gleichaltrigen Patienten Klara und Adam trifft, die qua Biographie und Lebensstil für ein großes Stück jener Bandbreite stehen, die Wien am Vorabend des Ersten Weltkriegs ausmacht: Dieser literarische Kniff erlaubt Edelbauer, hochverdichtet über jene Verdichtung und Zuspitzung zu schreiben, um die es ihr geht.

Hans, von der schönen, hochbegabten Mathematikerin ebenso fasziniert wie von dem dekadenten, musikbegabten jungen Grafen von Jesensky, ist alsbald hineingezogen in eine schwindelerregende Tour de Force durch die aufgewühlte Stadt. Eine Probe junger Musiker in der k.u.k. Akademie für Musik und Darstellende Kunst endet in einer Prügelei, provoziert von Adam, der zerrissen ist zwischen seiner Leidenschaft für die Schönberg-Moderne und der Pflicht, am nächsten Tag in den Krieg zu ziehen. "Er hatte schon immer Probleme mit seinen Aggressionen", kommentiert Klara. "Würdest du auch, wenn sich deine ganze Existenz an den Heldentaten eines Grafen Radetzky oder Schwarzenberg aufhängt und du dabei jede Leidenschaft dem Gehorchen unterordnen musst."

- © Klett-Cotta
© Klett-Cotta

Als Hans sich wenig später im Stadtpalais der von Jesenskys wiederfindet, wo er "mit dem Krisenstab der Militärkanzlei" zu Tisch sitzt, der zuvor "mit dem Kaiser den Angriff Belgiens verhandelt hat", und wo Juden und Sozialisten als "Insekten" beschrieben werden, ist sein Entsetzen kaum größer als bald danach in der Unterwelt der Freigeister, wo Klara sich als mutige Sozialistin und öffentlich lesbische Frau offenbart. Aber das ist nicht alles. Klara ist auch Schlüsselfigur in jenem geheimnisvollen Kreis um Helene Cheresch, in dem übernatürliche Erfahrungen von der Art kollektiv ähnlichen Träumens erkundet werden.

Von der ersten Seite an rauscht der Leserin der Kopf vor dem, was Hans in 24 Stunden erlebt und worin sich das Ende und der Zusammenbruch einer Epoche abzeichnen. Sowohl die Handlung als auch die philosophischen, politischen und am Schluss sogar mathematischen Exkurse sind verdichtet erzählt; da gibt es Ausflüge in die biographischen Hintergründe der aus bitterer Armut entkommenen Klara, oder in das magische Dorf, von dem Helene Chereschs Patientinnen und Patienten träumen.

So wie die Verdichtung das Geheimnis und auch die Kunst von Raphaela Edelbauers Erzählen ist, wird sie ihm mitunter auch zum Verhängnis: wenn aus der Schichtung eher eine Stapelung wird und man dem Ehrgeiz, dass möglichst kein Aspekt fehlen darf, der in diesem geschichtlichen Moment eine Rolle gespielt hat, nicht mehr folgen mag.

Wien vor dem Krieg: Das ist die alte gegen die neue Welt; das sind die Revolutionen eines Arnold Schönberg in der Musik und die Aufregungen der jungen Psychoanalyse, das ist die bitterarme Unterwelt, in der mit Hilfe von Heroin überlebt wird, da sind die unerträglichen Standesgrenzen. Einzig Klara behält den klaren Blick auf so viel Inkommensurabilität: "Die Welt steht in Flammen, Menschenmassen werden sterben, und die Leute reagieren, als sähen sie einen spannenden Film, ein Unterhaltungsstück, wo man zur Zerstreuung die Partei eines Darstellers ergreift."

Krieg als Ventil

Mit Blick auf Adam und Hans spitzt sie zu: Auch sie seien nur junge gelangweilte Männer: "Nur die Fadisierten, die nie um ihr Leben kämpfen mussten, wollen in den Krieg ziehen, um einmal das Existenzielle zu erfahren."

Dass Hans, Klara und Adam weniger lebendige Figuren sind als hochartifizielle Gedankenkonstrukte, ist im Blick auf Edelbauers hochgestecktes Ziel nicht nur erklärlich, sondern auch verzeihlich. Dass ihr gesamtes Erzählen sich auf ein zentrales, durchaus aktuelles Anliegen zu bündeln scheint, nämlich zu vermitteln, wie bereitwillig eine überkommene, sozial alarmierend gespaltene Gesellschaft den Krieg als Gelegenheit akzeptiert, ihre internen Spannungen zu entladen - das ist ihr beeindruckend gelungen.