Bernardine Evaristo war 2019 die erste schwarze Frau, die die renommierte Literaturauszeichnung Booker Prize gewonnen hat. In dem prämierten Buch erzählt die britische Schriftstellerin von zwölf Frauen, und wie deren Leben durch die unterschiedlichsten Kämpfe verbunden sind. Vor kurzem hat Evaristo in ihren Memoiren "Manifest" davon berichtet, wie hürdenreich ihr Weg zum schriftstellerischen Erfolg war - als Frau, als Schwarze. Und wie es sich ausgezahlt hat, nie aufzugeben, gilt sie doch heute als eine der wichtigsten Autorinnen Großbritanniens. Nun war die 63-Jährige in Wien, um im Rabenhof aus ihrem Roman "Mr. Loverman" (Klett-Cotta) zu lesen. Tatsächlich ist der im Original schon 2013 erschienen, wurde aber erst jetzt ins Deutsche übersetzt. Der Roman erzählt von Barrington Walker, einem 74-Jährigen, der ein Doppelleben führt: Seine Frau Carmel verdächtigt ihn der Untreue - dass er sie aber seit Jahrzehnten mit einem Mann betrügt, das würde ihr nie in den Sinn kommen.

"Wiener Zeitung": Barrington, die Hauptfigur ihres Romans "Mr. Loverman" ist eine extravagante Erscheinung. Was hat Sie zu dieser Figur inspiriert?

Bernardine Evaristo: In Großbritannien gibt es eine Generation von Einwanderern aus der Karibik, die in den 50er, 60er Jahren gekommen sind. Die hatten einen ganz bestimmten Modestil, sie trugen Anzüge mit Weste und mit breiten Schultern, trugen Hüte, Trilbys oder Homburgs, die sie so schräg aufgesetzt haben, und ganz viel Gold. Diese Generation stirbt gerade aus, aber ab und zu sieht man noch einen an einem Sonntag. Das war meine Inspiration für Barrington. Wenn man sie sieht, würde man vielleicht denken, dass sie schwul sind, aber sie sind es nicht. Ich wollte so einen älteren karibischen Herrn in dieser Aufmachung porträtieren, der aber doch homosexuell ist. Denn dieser Look ist ziemlich camp - wäre er in einem schwulen Kontext. Aber die Menschen sehen ihn nicht als camp, weil er gar nicht mit dieser Kultur assoziiert wird.

Barrington hat seine guten Seiten, aber er ist auch ein schrecklicher Mensch. Abgesehen davon, dass er das Leben seiner Frau Carmel ruiniert damit, dass er ihr über 50 Jahre nicht sagt, dass er eigentlich einen Mann liebt, ist er engstirnig und ein unglaublicher Macho. Und tatsächlicher ist er in gewisser Weise selbst homophob.

Er hat Homophobie verinnerlicht, er ist zwar ein schwuler Mann, aber er hat mit dieser Kultur und Politik nichts zu tun, keine Berührungspunkte, hat keine Ahnung, was sich da entwickelt hat seit den 60ern. Da ist auch viel Selbsthass dabei, man muss bedenken, er fürchtet sich wegen seiner Sexualität seit 60 Jahren. Am Anfang war das begründet, weil sowohl in der Karibik als auch in Großbritannien war Homosexualität illegal. Aber heute ist es das nicht mehr. Und er ist trotzdem in einem Gefängnis - das er sich selbst gebaut hat. Das ist die Tragödie. Und dass seine Frau von der Lüge nichts ahnt.

Allerdings: Wie kann man das nicht bemerken?

Oh, es gibt so viele Menschen, die ihre Partner nicht wirklich kennen! Carmel hat doch gar keinen Grund, an so etwas zu denken, sie lebt ein heterosexuelles Leben in einer heterosexuellen Welt. Der Vater einer Freundin von mir hatte sein Coming-out ihr gegenüber, als er schon über 80 war. Da war ihre Mutter schon lange gestorben. Niemand wusste, dass er seit dem Krieg geheim Beziehungen mit Männern hatte! Carmel lebt ein kleines Leben, es gibt Menschen, die sich dafür entscheiden. Ich kenne Menschen, die leben ihr ganzes Leben lang schon in London, aber sie haben nicht mal der Hälfte der U-Bahnlinien benutzt.

London ist bekannt für seine vielen Kulturen, vielen Subkulturen, man fragt sich, warum Barrington hierhergekommen ist und dann die Möglichkeiten, die die Stadt bietet, gar nicht angenommen hat.

Sehen Sie, London besteht aus vielen Dörfern, vielen Demografien, Kulturen - hier kann jeder seine Leute finden. Hackney, wo Barrington lebt, ist ein Dorf - war es historisch gesehen auch früher. Er lebt da seit 50 Jahren, im karibischen Dorf. London ist eine große Stadt, aber man kann in London wohnen und trotzdem ein sehr kleines Leben führen.

Barrington ist 74 Jahre alt - dass ältere Menschen so eine schillernde Hauptfigur in einem Roman sein dürfen, ist selten.

Ja, es scheint so eine Art Moratorium zu geben für Geschichten über alte Menschen. Wenn man ein gewisses Alter erreicht hat, dann ist man nicht mehr wert, dass etwas über einen erzählt wird. Das ist im Film ja ganz ähnlich. Wir sind eine sehr altersfeindliche Gesellschaft. Dabei wird doch die Erfahrung mehr, je älter man wird, als Charakter wird man reicher und komplexer, also wenn das nicht das perfekte Objekt für eine Geschichte ist! Warum die jungen, hübschen, faltenlosen 20-Jährigen mit so viel weniger Erfahrung als interessanter angesehen werden, erschließt sich mir nicht. Ich habe mir auch erlaubt, das Tabu zu zerschmettern, über Homosexualität im Alter zu schreiben, in einer Generation von Einwanderern, die bisher komplett heteronormativ betrachtet wurde. Das ist radikal - aber ich bin gerne radikal (lacht).

Als feministische Schriftstellerin, eine Woche nach dem Internationalen Frauentag: Was sagen Sie, wo stehen wir?

Ich würde sagen, dass die Gewinne, die wir machen, sehr zerbrechlich sind. Dass letztes Jahr Roe vs. Wade (Grundsatzurteil zum Abtreibungsrecht in den USA, Anm.) von sieben oder gar weniger Supreme Court Richtern gekippt wurde, sandte Schockwellen durch die Welt. Wir haben Historien des Patriarchats, bei denen es sehr, sehr lange dauern wird, sie zu beseitigen. Es gibt immer Rückschläge, ich nenne es den Dancing Progress, den tanzenden Fortschritt: Für zwei Schritte vorwärts geht es einen zurück. Aber so kommen wir - hoffentlich - nie wieder ganz an den Anfang zurück. Sobald es kleine Fortschritte gibt, wollen Vertreter des Patriarchats ihre Macht zurückraffen, sie fühlen sich bedroht, wenn Frauen mächtiger werden. Wir heben nicht die Welt aus den Angeln, wir gehen nur schrittchenweise in Richtung Macht, aber diese Männer fühlen sich schon als Minderheit und fühlen sich verfolgt. Also wo stehen wir? Der Kampf geht weiter. Er wird nicht beendet sein, solange ich lebe, solange Sie leben. Aber er muss gekämpft werden.

In Ihrem Roman wird angesprochen, wie wenige schwarze Schüler es in Eton, bekanntlich Schmiede der britischen Polit-Elite, gibt.

Aus Eton kamen 20 Premierminister, unter anderem Boris Johnson und David Cameron. Eton ist jetzt diverser, es ist besser als vor 50 oder 100 Jahren. Man muss schon sagen, dass sich Dinge geändert haben. Ich zum Beispiel kann nicht sagen, dass ich nicht Teil des Literatur-Establishments bin, ich habe den Booker Preis gewonnen, ich bin Präsidentin der Royal Society of Literature - nach 200 Jahren die erste Person of Colour. Aber diese Machtbasis, da wo die ausgebildet werden, die dann die Macht haben, in Schulen und Universitäten, da ist es schon immer noch sehr stark so, dass vor allem die Privilegierten ihre Kinder unterbringen.

Eine Ihrer Initiativen sind Neu-Ausgaben von Büchern vergessener schwarzer britischer Autoren und Autorinnen bei Penguin. Haben Sie eine besondere Empfehlung für unsere Leser?

Ja, das passt auch gerade gut: Dillibe Onyeama hat 1972 ein Buch mit dem Titel "A Nigger at Eton" geschrieben. Er war in den späten 60ern das erste schwarze Kind, das Eton abgeschlossen hat. Er schrieb darüber Memoiren, davon weiß heute niemand mehr etwas. Wir haben es nun natürlich "A Black Boy at Eton" genannt. Er erzählt, wie es war für ihn in dieser Brutstätte des britischen Establishments auf höchstem Level, das war zutiefst rassistisch, er hatte eine starke Persönlichkeit, aber er musste sowohl körperlich als auch mental schwer kämpfen, damit er das überlebt. Man sieht da auch gut, wo die Borniertheit dieser Oberschicht herkommt, die Menschen, die ihn da gequält haben, wurden dann Wirtschaftskapitäne und Regierungspolitiker. Das war so wichtig, dass wir das wieder veröffentlicht haben, denn damals hat Eton ihn mit einem Bann belegt, aber jetzt hat man sich bei ihm entschuldigt.