Die "Essais" des Michel de Montaigne sind für viele das Buch des Lebens. Immer wieder, in verschiedenen Lebensaltern, greifen sie zu dem Band, den der Verfasser untertreibend "Versuche" nannte. Versuchungen sind sie auch - für den Leser, der diesem skeptischen Einzelgänger auf seinen beharrlichen Erkundungsgängen zu folgen sucht, bei denen er schreibend über sich selbst und sein Verhältnis zur Welt Aufklärung sucht.
Versuchungen sind die Essais auch deshalb, weil der einfallsreiche Selbstbefrager aus der südfranzösischen Dordogne sein Lebenswerk in einer Zeit schuf, die ihm nur Ungewissheit und handfeste Bedrohung durch Krieg, Verwüstung und eigensüchtige politische Interessen bescherte. Die neue Biographie des an der Universität Fribourg in der Schweiz lehrenden Historikers Volker Reinhardt geht in beeindruckender Detailfülle auf diese wechselhaften Zeiterfahrungen ein, die nicht zuletzt maßgebend dafür wurden, dass Montaignes Gedankengänge so reich an Für und Wider, Ansichten und Gegendarstellungen, Sprüchen und Widersprüchen sind.
Schreiben in der Not, das zeigt Volker Reinhardt, wird für Montaigne ein Überlebensmittel. 1572 beginnt der Landedelmann in seinem Schlösschen nahe Bordeaux mit der Niederschrift des ersten Buchs seiner Essais. Es ist das Jahr der Bartholomäusnacht, als in Paris tausende von Hugenotten blutig abgeschlachtet werden. Wenige Wochen später greift der religiöse Fanatismus auch auf Bordeaux über. Einem von Priestern angefeuerten Massaker fallen 250 Menschen zum Opfer.
Gelassen erdulden
Nur 40 Kilometer entfernt sitzt der federführende Skeptiker Montaigne umgeben von Büchern im Turmzimmer seines Ansitzes und sieht sich in eine Zeit gestellt, in der ein immer blutiger werdender Glaubenskrieg zwischen Katholiken und Calvinisten den BürgernFrankreichs über Jahrzehnte hinweg ein ungesichertes und höchst gefahrvolles Leben aufzwingt.
Just in dieser Epoche der tobenden Gewalt und später auch einer um sich greifenden Pestepidemie entwickelt Montaigne (1533-1592) eine von Gelassenheit und Toleranz geprägte Überlebensphilosophie. "Man muss ertragen lernen, was man nicht vermeiden kann", notiert der hellsichtige Zweifler an allen überkommenen Gewissheiten, denn: "Blicken wir doch nur um uns: Alles um uns her wankt und fällt ... Es ist, als hätten die Gestirne selbst beschlossen, dass wir lang genug und über unsere Zeit gedauert haben. Und auch dies bedrückt mich, dass das Übel, das uns am unmittelbarsten bedroht, nicht eine Verderbnis ist, die den gesamten und geeinten Körper erfasst hat, sondern seine Auflösung und Zerstreuung, die schlimmste unserer Befürchtungen."

Mit vielem, was der scharfsichtige Beobachter und wache Zeitanalytiker Montaigne inmitten der Umbrüche und verstörenden Weltbild-Verdunkelung zu Papier gebracht hat, könnte man recht unmittelbar die Gegenwart glossieren. Und doch verfehlt man durch solche wie mit dem Feldstecher erzwungene Nähe den Blick auf die wirkliche Größe von Montaignes Gestalt.
Volker Reinhardt dreht gleichsam das Fernglas um und zeigt, wie sehr Montaigne in die Umstände und Krisen seiner Zeit verstrickt war. Als Mitglied des Obersten Gerichtshofs von Bordeaux versuchte er, mildernd in die konfessionellen Kämpfe einzugreifen und seine ausgleichende Natur auch im politischen Alltag wirken zu lassen. Zweimal wurde er zum Bürgermeister der Stadt gewählt und versah den öffentlichen Auftrag durchaus erfolgreich.
Dennoch blieb er, auch in seinen weiter ausgreifenden diplomatischen Missionen, ein Eigenbrötler und Gedankenvagabund, der vor allem Aufklärung über sich selbst und sein Verhältnis zur Welt sucht und dabei nur der eigenen Anschauung sowie dem Kenntnisschatz traut, den er sich bei der Lektüre der antiken Autoren, allen voran Plutarch, aber auch Seneca, Epiktet oder Sextus Empiricus, erworben hat.
Gegen Vorurteile
Seit viereinhalb Jahrhunderten ist Montaigne tot, aber er redet aus seinen Büchern, als hielte er Zwiesprache mit uns. Das ist seine Verführungsgabe, die zu eilfertigen Identifikationen über alle Zeitgräben hinweg einlädt. Dabei hat er uns mehr zu sagen, wenn wir die Bedingungen seiner Zeitläufte im Blick bewahren und ihm nicht bloß nach dem Bedürfnis unserer eigenen Gegenwart das Ohr leihen.
In seinen Aufzeichnungen erlaubte er sich mit bisher unerreichtem Mut zu geistiger Unabhängigkeit, zu allen ihn bedrängenden Fragen des täglichen Lebens persönlich Stellung zu nehmen. Er nannte diese Denkproben selbst "Essais" und schuf damit ganz nebenbei eine neue Literaturgattung. Frische, Unbekümmertheit, Weltläufigkeit kennzeichnen seine Überlegungen, die er zu den allerentlegensten Dingen, wie der eigenen Winter- und Sommerkleidung oder der Erhöhung der Salzsteuer, ebenso anstellte wie zu den grundlegenden Erfahrungen der menschlichen Existenz: der geglückten Lebensführung, der Gelassenheit, der Abwehr von Unglück und Todesfurcht.
Voll Ironie geißelt er nebenbei die Auswüchse von Vorurteilen und Aberglauben seiner Zeit, vor allem wenn sie von der Inquisition gestützt sind. So schreibt er feixend: "Die Hexen in meiner Nachbarschaft geraten regelmäßig in Lebensgefahr, wenn ein neuer Autor auftaucht, der ihre Hirngespinste für bare Münze nimmt." Und hintersinnig ironisiert er seine eigene Denkerpose, indem er feststellt: "Wenn ich mit meiner Katze spiele, wer weiß, ob sie sich nicht mehr Zeit mit mir vertreibt als ich mit ihr?"
Als ein berühmtes Beispiel für Montaignes frisches, vorurteilsfreies Denken gilt sein Essai "Von den Menschenfressern". Seit er in Bordeaux einen Eingeborenen aus Südamerika vorgeführt bekam, ließ ihm die allgemeine Ansicht vom Gegensatz Natur-Kultur keine Ruhe. Die außereuropäischen Kannibalen erschienen ihm dem Stand der Unschuld und dem antikischen Ideal näher als manch verbildeter Kulturmensch seines eigenen Zivilisationskreises.

Michel de Montaigne auf einem anonymen Porträt von 1578.
- © Musée Condé / Public domain / via Wikimedia CommonsDenn, so fragt Montaigne, ist es nicht viel grausamer, einen Ketzer bei lebendigem Leib zu verbrennen oder einen Gegner im Bürgerkrieg niederzumetzeln, als einen Gefangenen aus einem feindlichen Stamm zu töten, um sich davon zu ernähren? "Wir mögen also jene Völker wohl, in Rücksicht auf die Vorschriften der Vernunft, Barbaren nennen, aber keineswegs auf uns selbst, da wir sie in allen Arten der Barbarei übertreffen."
Volker Reinhardt lässt den Leser die lebensgeschichtlichen Bedrängnisse nicht aus den Augen verlieren, unter denen solch ein selbstgewisser Gleichmut erkämpft werden musste. Mitten im Wüten der Religionsparteien erlaubte sich Montaigne, der Landherr katholischer Herkunft, ein gemäßigtes Freidenkertum. Eher halbherzig ließ er den Ritus seines angestammten katholischen Glaubens geschehen, blieb auch hier der Skeptiker antiker Schulung. Wie Erasmus von Rotterdam wich auch Montaigne im Politischen der Kirchenspaltung aus, um der Gesellschaft und dem Staat noch weitere Erschütterungen zu ersparen. Und wie Erasmus hegte auch er die Hoffnung auf eine einheitliche, übernationale Kultur auf der Grundlage eines weltoffenen Humanismus.
Umso mehr war Montaigne angewidert von dem Fanatismus des Bürgerkriegs, der mit dem Widerstreit religiöser Ideologien das Land verwüstete: "In dieser Verwirrung, in der wir uns seit 30 Jahren befinden", schrieb der 55-Jährige 1588, vier Jahre vor seinem Tod, "sieht sich jeder Franzose stündlich einer Lage gegenüber, die eine völlige Umkehrung seines Schicksals bedeuten kann."
Die Erfahrung des Verlusts aller Sicherheiten, die Montaignes Zeit mit sich brachte, spiegelt sich eindrucksvoll in seiner geistigen Haltung wider: in sich selbst jene wenn auch schwankende Gewissheit festzuhalten, welche die so genau beobachtete Umwelt so drastisch vermissen lässt. Zu Recht nennt der Biograph die Lebensleistung Montaignes eine "Philosophie in Zeiten des Krieges".
Distanz zum Hof
Montaignes Maxime war: "Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd." Bei der Lektüre seiner Essais wird sehr schnell klar: Wir sind nicht klüger, ausgeglichener, gütiger geworden als die Menschen damals. Meist nur hochmütiger und selbstgewisser. Mehr noch: Wir sind hinter den Erwartungen an die Zukunft zurückgeblieben, die zwischen Montaignes Zeilen trotz seiner Skepsis doch spürbar sind. Montaigne rehabilitierte nach einem Mittelalter des abstrakten Platonismus die Welt der Erscheinungen. Sein fragender Blick auf die Phänomene der sinnlichen Wahrnehmung begründete ein neues, nach Ausgleich strebendes Verhältnis des Einzelnen zur - inneren wie äußeren - Natur.
Eine Magna Charta desCommon Sense hat man das essayistische Lebenswerk des natur- und glückzugewandten Schlossherrn aus dem Südwesten Frankreichs genannt, der keineswegs ein politisch abstinentes Stubenhockerdasein geführt, sondern als hellwacher Rom-Reisender weitgespannte Erkenntnisse in der Fremde erworben und als gelegentlicher Berater des späteren Königs Heinrich IV. noch einmal tätige Erfahrungen im gesellschaftlichen Leben gesammelt hat. Nur zum loyalen Parteigänger hat er sich nie verdingen lassen - den Ruf des Königs, ein festes Amt am Hofe anzutreten, hat er unerhört verhallen lassen.
"Dass ein solcher Mensch geschrieben hat, dadurch ist wahrlich die Lust, auf dieser Erde zu leben, vermehrt worden", schwärmte Friedrich Nietzsche. Wer sich mit Michel de Montaigne erst anfreunden will oder längst angefreundet hat, ist gut beraten, zu Volker Reinhardts neuer Biographie zu greifen. Das größte Vergnügen erwartet ihn aber wie stets bei der Lektüre der Essais selbst, die so frisch sind, wie sie entworfen wurden: als Flaschenpost aus der Vergangenheit und Bewährungsprobe eines Individualisten, der sowohl im Zweifel wie im Frieden mit sich zu leben versucht hat.