"Wir sehen einen gedeckten Terrassentisch, überdacht mit einer vanillefarbenen Plane, flankiert von Steinmauern eines Landhauses im warmen ockergelben Licht. Weiter hinten schlängelt sich die dunkelgrüne Zierleiste einer Platanenallee durch die luftflimmernde Landschaft. Vorne rechts eine kleine Irritation - ein winziger kosmetischer Eingriff in die Natur, ein scharf ins Auge stechendes azurblaues Rechteck, ein Swimmingpool."
Eine kleine Irritation, aus der ein großes Unglück entsteht. Dieser Ansatz ist bezeichnend für den neuen Roman von Daniel Glattauer, der sich um eine Tragödie dreht, die drei Familien schicksalshaft miteinander verbindet: Zwei gut situierte österreichische Familien - Bobo-Milieu würde die umgangssprachliche soziologische Bezeichnung lauten - und eine Flüchtlingsfamilie aus Somalia.
Europäische Ferien
Die Strobl-Marineks haben in ihren Toskana-Urlaub mit den Binders ein aus Mogadischu stammendes Flüchtlingsmädchen mitgenommen, die Schulfreundin ihrer vierzehnjährigen Tochter Sophie Luise. Mit viel gutem Willen, aber wenig Empathie für die traumatisierte Familie setzten sie gegen den Widerstand der Eltern durch, dass das Mädchen mitfahren darf.

"Es war ein Husarenstück", formuliert Glattauer scharf, "Aayana aus der muslimischen Zwangsjacke ihrer Familie zu schälen, vorübergehend vom Kopftuch zu befreien und in eine Geländelimousine zu setzen, die sie in echte europäische Sommerferien der gehobenen Klasse bringen würde."
Eine klare Ansage, was Aayana im Urlaub erwartet: ein Schnellkurs in Europäisierung. Obwohl das niemand der Beteiligten aussprechen, ja nicht einmal denken würde. Die Bemühungen, dem Mädchen eine schöne Zeit zu bescheren, sind aufrichtig. Aayana ist aber auch deshalb eine willkommene Reisegefährtin, weil man sie praktisch "nicht spürt". Kein Wunder, weiß der externe Beobachter und Erzähler, hat sie doch gelernt, "in sich hineinzukriechen und sich zu verstecken".
Hätten die Erwachsenen darauf Rücksicht genommen, wäre vielleicht alles anders gekommen, aber müde von der langen Reise - die aufstrebende Grünenpolitikerin Elisa Strobl-Marinek reist aus Imagegründen sogar separat mit den Öffis an -, ist jeder mit sich selber beschäftigt. So kommt es zur Katastrophe, die aufgrund des Bekanntheitsgrades der Beteiligten auch in den Medien reges Echo findet.
Wer ist schuld?
Dialogreich, schonungslos direkt, mit gleichnishaften dramaturgischen Kunstkniffen, entlarvendem Sprachwitz und spannenden Szenen führt Glattauer durch die folgenschweren Ereignisse, die er unter anderem mit Zeitungsberichten, Interviews, Chats und (un)sozialen Medien illustriert und vorantreibt. In den Foren kommen User mit ihren Postings zu Wort, die wie der Chor einer griechischen Tragödie die Geschehnisse kommentieren. Dabei treibt Glattauer auch mit den Leserinnen und Lesern ein raffiniertes Spiel, indem er falsche Fährten legt und sie genüsslich mit ihren eigenen vorschnellen Urteilen konfrontiert.
Amüsant zu lesen auch das Duell zweier sehr unterschiedlicher Rechtsanwälte, die beide auf der Seite der Guten stehen, denn schuldig kann man in dieser Causa niemanden sprechen. Diese von Glattauer brillant gehaltene Balance ist es, die umso drastischer die kulturellen Missverständnisse, den Mangel an Sensibilität und Wissen und damit das Dilemma aller Beteiligten vor Augen führt.