Das Leben ist ein Geschenk, das überzogenen Erwartungen nicht standhält, sodass man an persönlich ausgewählte Ungerechtigkeiten glauben möchte, für die sich, wenn man denn dann noch will und die Kraft dazu hat, Verantwortliche benennen lassen, die sich aber, allen voran der oberste Dienstherr im Himmel und auf Erden, für nicht zuständig erklären.
In der zwischen Lachhaftem und Erbärmlichkeiten eingespannten irdischen Erkenntnismühle sorgt der Tod für Ordnung; er hat es nicht nötig, sich vorzustellen oder gar mit bemerkenswerten Umgangsformen für sich einzunehmen; dazu ist die Zeit zu knapp, denn das Sterben wird ja, da wir dummerweise immer mehr werden, längst massenhaft betrieben, ohne dass sich daraus eine Lösung aus zweiter Hand ableiten lässt. So bleibt der Tod ein gehetzter Dauergast, der immer wieder auf Überraschungsbesuche setzen muss, damit man ihn ernst nehmen kann.
Die Stille danach ...
Die norwegische Autorin Kristin Valla (Jahrgang 1975) beginnt ihren lesenswerten Roman "Das Haus über dem Fjord" mit einem Unglück, das als Naturkatastrophe daherkommt, nach der man, mühsam suchend und findend, weiterleben muss. Elin, die Ich-Erzählerin, ist noch ein Kind, als der Vater und ihre beiden Brüder bei einem Erdrutsch an der Küste von Nordnorwegen ums Leben kommen. "Wenn die Leute den Erdrutsch beschrieben, sprachen sie über das Rauschen der Wassermassen, die gegen das Land schlugen, über das Kreischen der Leitplanke, die zerrissen wurde und nach unten kippte. (...) Aber sie sprachen auch über die Stille danach. Den Fjord, der sich blank und freundlich über die Tonmassen legte, als sei nichts geschehen."
Nach dem Unglück, das überraschend kam, aber dann doch nicht so ganz ungewöhnlich ist, gibt es bereits andere Kundschaft für den Tod; er darf sich nicht länger aufhalten als unbedingt nötig, sein Dienstplan ist eng getaktet, er muss weiter. Außerdem hat er, was die Personenschäden angeht, ordentlich gearbeitet; die Opfer, die gefunden werden sollen, können besichtigt werden, darunter Vegard und Thomas, Elins Brüder.

Wer aber verschollen bleibt, ist ihr Vater: "Ich fragte, ob sie Papa gefunden hätten." Man "sagte, das nicht, aber sie hätten eben erst mit der Suche angefangen, es sei noch früh und es gebe noch Hoffnung genug. (...) Hoffnung genug, als wäre Hoffnung etwas, das man abwiegen und in passenden Portionen verteilen könnte."
So war das, im Jahre 1985, als der Felsen am Fjord einfach einstürzte und den Hinterbliebenen empfohlen wurde, auf andere Gedanken zu kommen. Dabei kann auch etwas verlorengehen, was man damals gar nicht vermisst hat: "So schlief ich ein, mit einem halb vollen Glas neben mir auf dem Nachttisch, in der letzten Nacht, als ich einfach ein Kind war."
Elins Vater taucht nicht wieder auf, und es kommt, wie es kommen muss; auf einem einkaufszettelähnlichen Totenschein wird amtlich festgehalten, "Papa müsse als umgekommen gelten". Damit beginnt, wenn man so will, Elins zweites Leben, das sie vorwiegend mit ihrer Mutter, einer in sich ruhenden, fast immer merkwürdig gepflegt wirkenden Frau zu führen hat.
Das ist nicht aufregend, sondern verläuft weitgehend ereignislos, was einerseits dem übergeordneten Vergessen dient, andererseits aber auch kleinteilige Erinnerungen bereithält, die auf Wiedervorlage aus sind. Elin wächst heran, schießt förmlich in die Höhe, auch das ein Prozess, dem man nicht direkt zuschauen muss.
Neue Wendungen
Eine erste, zweite oder dritte Jugendliebe steht zur Verfügung; von ihr darf man träumen, was eine Variante der Liebe ist, die gefühlsecht wirkt und zur nachträglichen Verklärung taugt. Den stärksten Stand als Jugendliebe hat Ola, der im Roman in eine Hauptrolle hineinwächst, die er auf anrührende Weise besetzt. Später wird er zum veritablen Schriftsteller, der so erfolgreich ist, dass man ihn, kaum hat er ein gut beleumundetes Buch unters Lesevolk gegeben, um weitere Manuskripte ersucht - keine Selbstverständlichkeit, wie wir wissen.
Elin arbeitet als Modejournalistin in Oslo, die mit ihrem Rang als Nummer 2 der Redaktion zufrieden ist, aber irgendwie dann doch nicht so recht. Mit Ola kommt sie wieder zusammen, steht ihrem Glück aber auch gern im Weg. Vor den Konsequenzen, die ein auf Dauer ausgerichteter Bund fürs Leben mit sich bringen könnte, schreckt sie zurück.
Dann nimmt ihr fein austariertes Leben eine erneute Wendung: "Mama war fünfundsechzig, als sie starb. Eines Tages hatte ihr Herz genug, sie wurde ins Bezirkskrankenhaus gebracht. (...) Als ich fragte, weshalb ihr Herz stehengeblieben war, konnten die Ärzte das nicht erklären. Das passiere eben manchmal (. ..) Noch gebe es vieles, sagten sie, was sie über das Frauenherz nicht wüssten."
Der Nachlass und das Erbe sind zu regeln; Elin hat zu tun, und Ola hilft ihr dabei. Dass sie einander lieben, ist ersichtlich, müsste aber irgendwie dingfest gemacht werden. Inzwischen zeigt sich eine überraschende Spur, die zu Elins noch immer verschollenem Vater führen könnte. Was ist wirklich mit ihm passiert?
Kristin Vallas Roman, ohnehin schon schön, nimmt noch einmal Fahrt auf, wird fast zum Krimi. Das Ende kommt überraschend, hat sich aber, bei näherem Hinsehen, auf behutsame Weise angedeutet. "Das Haus über dem Fjord", von der großartigen Gabriele Haefs übersetzt, ist ein berührendes, auch wehmütig stimmendes Buch, dessen Nachklang für sich selber spricht: "Die Sonne wärmte durch die Windschutzscheibe, legte sich über mein Gesicht. Alles draußen sah gut aus, so, wie es war."