Auch Du, meine Auster?

Von Haien erwartet man es ja nachgerade. Haie sind sowieso Menschenfressmaschinen (obwohl es eher umgekehrt ist, aber egal - nein, nicht egal, ein Wahnsinn ist es, was man der Meeresökologie mit der Haivernichtung antut).

Aber eine Muschel?

Davon später, einen Moment Geduld.

Es ist so was von grausam, was sich im Wasser abspielt. Jedes zweite Wassertier leckt sich seine Lippen nach den armen Menschlein! Jedes zweite? Nicht untertreiben, bitte, nicht untertreiben.

Gerade vom Streaming-Anbieter Netflix veröffentlicht: "Beneath". Ein harmloser See, malerisch gelegen. Ein Stadtstaubfresser, der da keine Bootspartie rudern mag. Es kommt, wie es kommen muss: Der Spaßverderber dürfte eine Art Wels sein.

Der Fisch - ein Ungeheuer!

Die ganze Meerestierverschwörung von Frank Schätzings krabbenblödem, aber wirkungsvollen "Schwarm" samt seiner Verserienfilmung einmal beiseite gelassen: Gibt es eigentlich irgendein Unterwassertier, dem noch nicht in einem Buch oder einem Film Bösartigkeiten zugesprochen wurden?

Eine Bitte an alle Ichthyologen: Ausnahmsweise diese fünf "Wiener Zeitung"-Spalten lang die Bezeichnung "Fisch" im Sinne des katholischen Mittelalters gelten lassen: Fisch ist, was im Wasser lebt, exklusive Biber, versteht sich. Die armen Nager wurden lange genug von Mönchen um ihre Schwänze gebracht, weil man an Fasttagen als einziges Fleisch ja nur das von Fischen essen durfte. Doch Nagetier bleibt Nagetier, weshalb der Film "Zombiber" ausdrücklich ausgeschlossen ist aus dieser Betrachtung fieser Fische.

Aber um Moby Dick, den Pottwal, dessen Leibspeise Kapitänshaxe ist, kommt man halt schwer herum. Auch die Neunaugen von "Blood Lake" sind keine Fische, sondern gehören der Ordnung der Rundmäuler an. Ebenso ist die Auster naturgemäß kein Fisch, sondern eine Muschel. Also bitte alles cum grano salis lesen - oder besser gesagt: mit einer dicken Salzkruste.

Kleine Aufzählung all der fiesen Meeresbewohner? Haie und Kraken, wohin man schaut, dazu brauchte es weder Peter Benchley noch Steven Spielberg, obwohl die recht gute Katalysatoren der Selachophobie waren, Piranhas bei Joe Dante und Alexandre Aja, Wale von Pott- bei Herman Melville samt Verfilmungen bis zum Orca Michael Andersons, Paul Zillers Schlangenkopffische, Mantas in einer Jules-Verne-Film-Verdrehung, Barrakudas sowieso und Muränen, dazu diverse Mutanten aller Art, verursacht von menschlicher Chemie und unmenschlichen Dämonengöttern, und Monster von Skylla und Charybdis über Seeschlangen und dem japanischen Wassergeist Umibozu bis zu den Monstrositäten in Binnengewässern, ja, genau: Nessie, Manipogo, Mokele Mbembe, Ogopogo und ihre Verwandten. Also aufpassen, wenn man im kommenden Sommer das Klosterneuburger Strandbad aufsucht, man kann nie wissen, was sich dort wasserseits umtreibt.

Apropos: nicht zu vergessen all die Wassermänner und Nixen, die Rheinbewohnerin Loreley und ihre danubische Schwester, das Donauweibchen, sind für Flussschiffer, was die Sirenen für griechische Seeleute waren, sofern sie sich nicht, wie Odysseus, an den Mast binden ließen, um dem Gesang gefahrlos zu lauschen.

Und dann kommt noch der absolut monströse Dugong hinzu. Ein Dugong als Monster? Im Ernst? Ja, denn Jules Verne ist dem sinisteren Klang des Namens auf den Leim gegangen, und so wurde aus der harmlosen Seekuh im Roman "Die geheimnisvolle Insel" ein bösartiges Meeresluder.

Was treibt Autoren und Filmemacher dazu, all diese Wasserbewohner, die, sofern sie real existieren, weit öfter Opfer des Menschen sind als seine Feinde, zu Ungeheuern zu machen? Und überhaupt die Gewässer als Horte des Bösen, des Übernatürlichen, der tödlichen Gefahren zu verdächtigen?

Riesenkraken gibt es wirklich!

Ein paar Sachen kommen zusammen in früherer Zeit, in der Sagen und Mythen mit ihren Nachwirkungen bis in die Gegenwart entstanden sind: Teilweise wollten Seeleute ihren Konkurrenten die Handelswege vermiesen. Man segelt seine Gewürznelkenladung nicht über Gewässer, in denen Seeschlangen lauern. Zum anderen Teil versuchten die Menschen, sich Fälle des Verschwindens auf diese Weise zu erklären. Der junge Mann ist fort, und das knapp vor seiner Hochzeit? Er ist wohl dem Donauweibchen zum Opfer gefallen.

Und drittens, bei aller Wissenschaft (die in Zusammenhang mit Gewässern ohnedies nur über ein Teilwissen verfügt): Man überblickt halt wirklich nicht, was gerade jetzt unter der Oberfläche vorgeht. Von dem, was man sieht, zeichnen die Wellen trügerische Bilder, und was sich in den Tiefen tummelt, in die der Blick nicht dringt, ahnt man nicht einmal etwas. Das Unbekannte macht Angst. Von Rossatz nach Dürnstein mit der Fähre über die Donau - das dauert nur ein paar Minuten. Kann da nicht doch der Riesenwaller auf Beutezug flösseln? Keine Sorge: Den Riesenwaller gibt es nicht.

Allerdings gab es auch keine Riesenkraken, die waren Seemannsgarn - bis spanische Wissenschafter im Jahr 2003 an der spanischen Nordküste ein Exemplar eines Riesenkalmars von elf Meter Länge entdeckten. Die "Santa Maria" des Christoph Columbus war knapp 24 Meter lang.

Glitschig, groß und gefräßig

Und überhaupt: Fische. Glitschig, manchmal beängstigend groß, gefräßig, die Augen starr (hypnotisch?), sie atmen anders, sie bewegen sich anders, sie sind anders. Der US-amerikanische Autor H. P. Lovecraft ekelte sich vor Fischen, schlimmer noch: Fische machten ihm Angst. Und so schuf er einen Kosmos fischiger Dämonengötter. Das Meer: Ein Schlund, in dem das Unbeschreibbare haust, der lebendig tote Gottkraken Cthulhu etwa, und in Innsmouth verwandeln sich Menschen gar in Fischwesen.

Womit der Taucher ins Spiel kommt, der eine Auster zu lange ansieht. Der Brite Brian Lumley hat, neben dem Necroscope-Vampirzyklus einige Kurzgeschichten geschrieben, deren bizarre Ideen richtig Horrorspaß machen. Darunter ist auch die mit der Auster und dem groteskesten Persönlichkeitstausch der Literaturgeschichte. Man könnte vermuten, der Taucher heißt Gregor Samsa. Man braucht ja nicht immer Schabe zu sein, manchmal fühlt man sich auch schalenbewährt unterseeisch ganz wohl - oder eben auch nicht.

Was freilich zur erschreckenden Erkenntnis führt, dass irgendwo ein Austernmensch sein Landunwesen treibt.

Diese Vorstellung ist so gruselig, dass man nur noch einen Schlusspunkt setzen kann, ins Bett springt, zitternd die Decke über die Ohren zieht und hofft, dass man nicht selbst unversehens zum Guppy mutiert.