In Österreich sterben jährlich dreimal so viele Menschen durch Suizid wie im Straßenverkehr. Grund genug, sich dieses Tabuthemas anzunehmen und ein Buch darüber zu schreiben. Mit "Der König der Möwen" setzt Paul Pizzera den Dialog aus seinem Erstling "Der hippokratische Neid" zwischen einer Psychotherapeutin und ihrem Klienten fort. Nur dass Letzterer diesmal nicht in die Praxis kommt, sondern die Therapeutin auf einen Hotelbalkon gerufen wird, von dem er sich aus Liebeskummer stürzen will.

Auf 77 Seiten führen die beiden recht bald eine tiefgründige Unterhaltung, die auch deutlich macht, wie wichtig Pizzera das Thema Psychotherapie ist und wie schlimm er die teilweise bestehende Unterversorgung damit findet. Lustig ist das nicht, auch wenn er eine (sparsame) Dosis schwarzen Humor einsetzt, die vor allem in der Hörbuchfassung mit ihm und Michael Niavarani ihre Wirkung entfaltet. Die "Wiener Zeitung" hat mit Pizzera über das sensible Thema gesprochen.

Paul Pizzera bei der Präsentation seines zweiten Buches, das ein todernstes Thema behandelt. - © Ulrike Rauch
Paul Pizzera bei der Präsentation seines zweiten Buches, das ein todernstes Thema behandelt. - © Ulrike Rauch

"Wiener Zeitung": Herr Pizzera, wann waren Sie das letzte Mal beim Psychotherapeuten?

Paul Pizzera: Gestern.

Bei einer Frau oder einem Mann?

Bei einem Mann. Aber ich war auch schon bei einer Frau. Es ist halt immer eine sehr intime Sache, auch diese Angst davor, zu hören, dass man vielleicht selbst Teil des Problems ist und nicht nur die anderen schuld sind. Ich glaube, das hält viele Männer ab.

Was war das Motiv für das Buch?

Zum einen wollte ich ein weiteres Mal die Wichtigkeit von Psychotherapie unterstreichen und gerade die Angst von Männern davor, vor der Kommunikation, vor dem Zugeben von Schwäche minimieren. Zum anderen wollte ich dieses schwierige Thema Suizid beleuchten, wobei "schwierig" ein anderes Wort für "notwendig" ist. Und drittens habe ich einen sehr, sehr guten Freund, der bei einer OP einen Schlaganfall erlitten hat. Davor war er extremer Bodybuilder, heute sitzt er im Rollstuhl, braucht Windeln, wird über eine Magensonde ernährt und kann nur noch zwei Finger bewegen. Geistig ist er offenbar noch da, aber physisch hat er quasi kein Leben mehr und will nicht mehr leben, er hat aber keine Möglichkeit, es zu beenden. Das waren drei Komponenten, die den Ausschlag gegeben haben.

Der Freund kommt ja im Buch vor.

Ich fürchte mich schon und freue mich trotzdem, wenn ich ihm ein Exemplar bringen kann.

Hat das Buch vor der Veröffentlichung ein Psychotherapeut gelesen? Gerade das Thema Suizid ist ja extrem sensibel.

Ich habe im Vorfeld mit meinem Psychotherapeuten darüber gesprochen. Aber im Vorwort ist auch festgehalten, dass es überhaupt keinen wissenschaftlichen Anspruch erhebt. Und natürlich verhält sich die Psychotherapeutin in der Geschichte völlig falsch in allen Belangen, wie man nur irgendwie mit einem Menschen umgehen kann. Es ist ja auch die Räuberleiter des Humors, die auf dieses schwierige Thema hinweisen soll. Natürlich weiß ich um meine laienhaften Kenntnisse Bescheid, aber darum geht es mir ja auch nicht. Es soll einfach ein bisschen sensibilisieren und enttabuisieren. Wir sollten mehr darüber reden. Allein, dass ein Lokführer bei den ÖBB in seiner Dienstlaufbahn im Schnitt mit 23 Suiziden konfrontiert ist, sollte zu denken geben.

Haben Sie die Hoffnung, dass das Buch Suizide verhindern kann?

Ich glaube, das wäre zu anmaßend. Aber zum Beispiel die Rückmeldungen zu unserem Lied "Klana Indianer", wo es um das Eingestehen von Schwäche geht, zeigen mir, dass es mehr als einer Person hilft, und dann habe ich schon gewonnen. Ich glaube auch, einer der letzten Strohhalme, die man in manchen Situationen hat, ist es, bei aller Mühsal und bei allem Schmerz trotzdem zu versuchen, nicht den Humor zu verlieren, so makaber das klingt. Mir geht es auch darum, deutlich zu machen, wie wichtig Psychotherapie generell ist. Wir haben zum Beispiel ein wahnsinniges Femizid-Problem in Österreich, wo Psychotherapie hundertprozentig vielen Männern helfen würde.

Es braucht also mehr Psychotherapie, auch auf Kasse?

Auf jeden Fall! Ja, es ist teuer, aber es ist viel rentabler, als wenn man lauter Menschen erhalten muss, die Probleme mit ihrem Leben haben.

Herr Pfingstl im Buch will sich vom Balkon stürzen, weil er glaubt, seine Frau will die Beziehung beenden. Sind es manchmal wirklich so scheinbar banale Dinge, die Menschen in den Suizid treiben?

Für manche mag es als eine Lappalie sondergleichen erscheinen, das stimmt. Was es mehr karikieren sollte, ist der Hilfeschrei, den er eigentlich in Richtung seiner Frau ausstoßen will damit. Es ist eher die Aufmerksamkeit, die er erregen will bei ihr, als sein Schmerz. Es ist auch sein Stolz, der da spricht, ein Vorwurf: Du hast mir das Leben genommen, weil du dich so verhalten hast mir gegenüber. Im Buch schreibe ich auch, dass man eigentlich jedem Pärchen zu einer Trennung gratulieren müsste, weil einer offensichtlich nicht mehr wollte. Und man will ja auch nicht, dass jemand mit einem zusammenbleibt, der einen nicht mehr liebt. Aber natürlich, es gibt viel adäquatere Gründe, sich das Leben zu nehmen. Nur, eine Überdosis Tabletten und Alkohol aus Liebeskummer, das passiert leider häufig.

Wobei ja ein lautstark angekündigter Suizid meist eher ein Hilferuf ist. Wer sich wirklich umbringen will, sagt es eher nicht vorher.

Und ist meistens in seinen letzten Lebenstagen sehr glücklich, weil er sich schon entschieden hat. Das ist brutal.

Ich glaube, ich persönlich wäre zu feig für Suizid, weil ich zu viel Angst vor dem Sterben habe.

Ich würde es so formulieren: Ich lebe zu gern. Das ist ein viel schönerer Zugang.

Ist der Buchtitel "Der König der Möwen" eine Reminiszenz an Richard Bachs "Die Möwe Jonathan", die ja mit dem Tod in eine neue, für sie bessere Welt transzendiert?

Nein, aber das wäre natürlich eine schöne Metaebene gewesen. Mein Titel ist einerseits eine Anspielung auf den Flug nach unten und andererseits auf die Kunst, auf all seine Sorgen und Ängste runterzusch..., wie es halt eine Möwe tun kann.