Mit dem Krieg in der Ukraine ist eine europäische Region in den Blick geraten, die seit Jahrhunderten Zankapfel der Großmächte war und vor allem im 20. Jahrhundert zum Schauplatz blutiger Menschheitsverbrechen wurde. Bloodlands hat der amerikanische Historiker Timothy Snyder diese geschundenen Regionen genannt, die in den baltischen Staaten, der Ukraine, im Westen Russlands und in Belarus zu finden sind. Hier wüteten Stalins Schergen genauso wie die Nationalsozialisten, Partisanen kämpften gegen Besatzer und die einheimische Bevölkerung massakrierte sich gegenseitig oder vergriff sich an den einst dort ansässigen Juden.
Für so etwas wie nationale Identität blieb kein Raum, und Zeiten der Eigenstaatlichkeit blieben Episoden. Für Belarus, das frühere Weißrussland, das seit fast drei Jahrzehnten vom diktatorischen Präsidenten Alexander Lukaschenko mit brutaler Hand regiert wird, gilt das ganz besonders. Als jüngst russische Geheimpläne bekannt wurden, sich das Nachbarland bis 2030 nach und nach einzuverleiben und zu einem Vasallenstaat zu machen, markierte das nur eine weitere Volte in einer schier endlosen Gewaltgeschichte.
Heilerin und Hexe
Großmutter Darafeja muss das nicht mehr erleben. Sie ist gestorben, mit 101 Jahren. "Zwei Kriege und neun Mächte hatte die Alte überlebt", und nun liegt sie aufgebahrt im eigenen Haus irgendwo in der sumpfigen belarussischen Provinz. Ihre Enkelin Ryna, die bei ihr aufgewachsen ist, macht sich aus Deutschland auf zur Beerdigung. Sie hat als Altenpflegerin in Darmstadt gearbeitet, ist aufgrund ihrer Trinkerei aber entlassen worden und nun auf dem Weg in die alte Heimat.

"Keine Familie, kein Zuhause, kein Beruf, nur aufrechter Alkoholismus" - Letzterem frönt sie eifrig während der Reise, und als sie die letzten sieben Kilometer von der Bushaltestelle ins Dorf zu Fuß zurücklegt, liegt einiges an Schnapsdunst über ihrer Wahrnehmung. Der Weg zurück führt schnurstracks in die Vergangenheit und in einen imaginären Dialog mit der Großmutter, die der kleinen Ryna jede Menge beigebracht hat: dass man die Eier des Rotkehlchens nicht berühren darf, denn sonst ist man auf ewig verflucht; dass sich mit einem Disteltrank unliebsame Zeitgenossen aus der Welt schaffen lassen; wie man die Begegnung mit einem Wolf überlebt; und dass es sieben Tode braucht, wenn eine Heilerin begraben wird.
Denn eine solche war die Großmutter. Für jede Krankheit wusste sie ein Mittel, und dass ihre Methoden ins Übersinnliche lappten, machte sie nur umso besonderer. Sie war, was man in früheren Zeiten eine Hexe genannt hätte: eng mit der Natur verbunden, ausgestattet mit magischen Kräften und magischem Wissen und deshalb ebenso bewundert wie gefürchtet.
Und sie war eine Chronistin der Zeitläufte und hat unermüdlich alles aufgeschrieben "mit einem blauen Kopierstift". Diese Hefte findet Ryna im Haus der Großmutter, und daraus entwickelt sich eine Erzählung über all die Schrecken und Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts, die den Roman "Was suchst du, Wolf?" der belarussischen Autorin Eva Vienaviec durchziehen.
"Erst kamen die Deutschen und jagten die Juden, dann kamen die Polen und jagten die Juden, dann kamen die Sowjets und die Juden atmeten ein bisschen durch, dienten sich der neuen Macht an, weil die versprochen hatte, Hurra! Es kommt die Internationale."
Doch nicht nur die Juden, auch die Frauen haben schwer zu leiden unter den wechselnden Herrschern: "Alles dieselbe leere Art, Männer." Sie morden und vergewaltigen, und die Großmutter muss nicht nur alle möglichen Geschlechtskrankheiten behandeln, sondern auch die seelischen Traumata der geschundenen Frauen.
Opfer der Stärkeren
Die 1972 ins Minsk geborene Eva Vienaviec, die seit 2019 in Polen lebt, korrigiert mit dieser grausamen Geschichtslektion nicht zuletzt das offizielle Vergangenheitsbild des Regimes. Die Mächtigen sind wie Wölfe, Gut und Böse gibt es hier nicht, sondern nur gnadenlose Täter und die Schwächsten als Opfer. Zugleich ist ihr eindrucksvoller, "magisch realistischer" Roman eine Hommage an die Frauen von Belarus, die auch im Kampf gegen das Lukaschenko-Regime an vorderster Front stehen.
Die Großmutter mit ihren Zauberkräften blieb unangetastet, und jetzt, da sie tot ist, müssen in der Tat sieben andere sterben. Es sind allesamt Männer - und dazu noch ein erhängter Hund im Erlengestrüpp. Aber "ein Hundetod zählt hier nicht" im Land der Sümpfe, wo der Mensch "weder Schutz noch Rettung" hat.