Das Stundenbuch im klassischen Sinne ist ein Andachtsbuch für das sogenannte Tagzeitengebet - die verschiedenen Zeiten eines Tages sollen mit einem Gebet geheiligt, der Tag als Ganzer soll damit Gott und seinem Lobpreis gewidmet werden. Die berühmtesten Exemplare dieser Gattung, die Mitte des 13. Jahrhunderts aufkam und zunächst vor allem als Laienbrevier gedacht war, waren opulent verziert und illustriert, eine Art Coffee Table Books des Mittelalters, mit denen besonders Adlige gerne ihre Räumlichkeiten schmückten. Stundenbücher waren Manifestationen zyklischer Zeiterfahrung, aber auch Erinnerung daran, dass man für jeden einzelnen Tag dankbar sein sollte - eine Art rituelles memento mori, das im Gebetstakt des Tages daran gemahnte, dass wir nur Gast auf Erden sind.

Warum Helga Schubert ihrem neuesten Buch, "Der heutige Tag", die Gattungsbezeichnung "Stundenbuch der Liebe" gibt, wird mit dem vorangestellten Motto aus dem Matthäusevangelium deutlich: "Darum sorgt nicht für den andern Morgen; denn der morgende Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe."

"Zwei alte Liebesleute"

Die "Plage", das sind die Mühen des gemeinsamen Altseins: Helga Schubert ist 83 Jahre alt, ihr Mann noch einmal 15 Jahre älter, und er wird schon seit Jahren palliativ zu Hause versorgt. Zweimal am Tag kommt der Pflegedienst, aber ansonsten bewältigt Helga Schubert diese Mammutaufgabe weitgehend allein - die alltäglichen Routinen (Urinbeutel leeren, kochen, waschen) genauso wie die regelmäßigen großen und kleinen Katastrophen, die ein oftmals verwirrter Mensch so anrichtet: Wenn er mit dem Rollstuhl eigenmächtig nach draußen fährt und umkippt, wenn er sich heillos im Schlauch des Blasenkatheters verheddert, wenn er nachts die Polizei ruft, weil er Einbrecher im Haus vermutet.

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Aber es ist eben auch und vor allem ein Stundenbuch der Liebe, die in diesem Fall schon unglaublich lange währt: "Jede Sekunde mit dir ist ein Diamant, sagt Derden zu mir und umarmt mich, als ich morgens in sein Zimmer und an sein Pflegebett komme. Wir sind seit 58 Jahren zusammen. Zwei alte Liebesleute."

Derden ist nicht sein richtiger Name - so viel Verfremdung muss sein -, aber ansonsten ist dieses Buch natürlich unverstellt autobiografisch (abgesehen vielleicht von einem etwas deplatziert wirkenden Kapitel, in dem die Autorin ihr eigenes Gestorbensein imaginiert). Derden nennt sie ihn als "Der, den ich liebe", und wir erfahren in Helga Schuberts poetischem Bericht nicht nur vieles über den Alltag häuslicher Pflege, sondern auch über die Anfänge dieser Liebe in DDR-Zeiten. Nicht selten wird die Überforderung spürbar, die Verzweiflung darüber, so wenig Hilfe von außen zu bekommen, von den Kindern, von Nachbarn.

Als Helga Schubert vor drei Jahren den Bachmannpreis gewann, war sie heilfroh, dass der Wettbewerb digital stattfand. Jemanden zu finden, der sie gleich mehrere Tage daheim vertreten hätte, wäre schwierig bis unmöglich gewesen. Schon im daraus erwachsenen, ebenfalls autobiografischen Buch "Vom Aufstehen"(2021) war ihre Lebenssituation in der mecklenburgischen Provinz teilweise Thema gewesen. Nun ist sie ins Zentrum gerückt, doch bei aller Liebe zu ihrem Mann kreisen Schuberts Gedanken natürlich auch um den nahenden Tod, ums Abschiednehmen von Freunden und Bekannten und um die eigene Endlichkeit.

Mitunter meldet sich beim Lesen ganz dezent die Frage, ob das eigentlich legitim ist: einen Menschen in seinem körperlichen Verfall, in seiner Demenz, in seiner Hilflosigkeit literarisch "auszustellen". Aber Helga Schubert erzählt so liebe- und vor allem würdevoll von ihrem Mann, dass sich diese Bedenken gleich wieder verflüchtigen. Und als ein Verwandter davon spricht, es wäre doch vielleicht besser, wenn Derden für immer die Augen schließen und dieses Dahinsiechen ein Ende haben würde, erwidert sie mit eiserner Bestimmtheit, das komme gar nicht in Frage: "Eine ganze Welt wäre zu Ende. Denn seine ganze Welt ginge zugrunde."

Lebensweisheit

Als Rainer Maria Rilke 1905 sein "Stunden-Buch" veröffentlichte, galt dieser wegweisende Gedichtzyklus vielen als ergreifendes Dokument der Gottessuche eines homo religiosus. Dabei war dieses Werk schon qua Widmung "Gelegt in die Hände von Lou" Andreas-Salomé und in diesem Sinne ebenfalls ein Stundenbuch weltlicher Zuneigung.

Auch Helga Schuberts "Stundenbuch" zeugt bei allen religiösen Anklängen vor allem von großer Liebe und Lebensweisheit. Als Derden eines Tages in der Sonne sitzt, Sahnejoghurt löffelt und der Amsel lauscht, denkt sie: "So darf ein Leben doch ausatmen." Dass wir dieses Leben so eindringlich beim Ausatmen begleiten dürfen - das haben wir diesem wirklich bewegenden Buch zu verdanken.