Sabine Gruber.
Sabine Gruber.

Es mag Zufall sein, dass in diesem Sommer gleich zwei Romane erscheinen, die sich mit literarisch bislang eher selten behandelten historischen "Komplexen" befassen. Während die diesjährige Bachmannpreisträgerin Maja Haderlap sich in ihrem Prosadebüt dem Partisanenkampf der Kärntner Slowenen im Zweiten Weltkrieg widmet, wagt sich Sabine Gruber in ihrem vierten Roman auf das heikle Terrain des Verhältnisses zwischen Italien und Südtirol, der weiterwirkenden faschistischen und nationalsozialistischen Vergangenheit. In beiden Romanen wird die Grenze, das Dazwischen zum Symbol für Verwundungen, die bis in die Gegenwart reichen und auch die Nachgeborenen nicht verschonen.

"Alles ist hier auf Blut gebaut, hatte Ines geschrieben. Auf gestillten Wunden, nicht auf verheilten." Ines ist tot, und Clara, ihre Freundin aus gemeinsamen Kinder- und Jugendtagen im fiktiven Südtiroler Ort Stillbach, ist nach Rom gefahren, um dort Ines’ Wohnung aufzulösen. Ines war in den 1970er Jahren, dieser "bleiernen Zeit" der italienischen Politik, die mit der Ermordung Aldo Moros ihren traurigen Tiefpunkt erlebte, nach Rom gegangen, um dort als Zimmermädchen in einem Hotel zu arbeiten. Mädchen aus Südtirol waren damals gefragt im Tourismus, nicht nur weil sie deutsch sprachen, sondern auch weil sie als arbeitsam und fleißig galten.

Ines landet im Hotel von Emma Manente, die ebenfalls aus Stillbach stammt und 1938 den gleichen Weg genommen hat, um die Familie im ärmlichen Südtirol finanziell zu unterstützen. Doch Johann, der Mann aus der Heimat, dem sie versprochen war und der als Soldat in der deutschen Wehrmacht diente, stirbt 1944 bei einem Partisanenanschlag, der von den Deutschen vergolten wird mit dem berüchtigten Massaker in den Ardeatinischen Höhlen. Kurz darauf wird Emma schwanger und bleibt als Hoteliersgattin in Rom, wo ihr Sohn Francesco dann in den 1970er Jahren ins Umfeld der Brigate Rosse gerät.

Die beiden Vergangenheitsebenen, die Zeit des Faschismus, der deutschen Besatzung und der Resistenza sowie des Terrors der 1970er Jahre, bilden den Kern dieses vielschichtigen Romans. Clara erfährt all die Geschichten aus einem Romanmanuskript, das Ines hinterlassen hat und das mehr als die Hälfte des Buches ausmacht. Umrahmt wird dieser Roman im Roman von der Gegenwartsebene, in der die Perspektiven von Clara und Paul sich in Rom aufeinander zu bewegen.

Paul, der schon in Grubers zweitem Roman "Die Zumutung" (2003) auftauchte, war mit Ines befreundet und arbeitet als Fremdenführer und Fachmann für "Kriegsgreuel, Massaker, Folterknechte" in Rom. Clara hingegen bildet gleichsam das "Scharnier" in die Stillbacher Vergangenheit, den Raum "zwischen den Stühlen", was vor allem zur Zeit der "Option" diesen Landstrich fast zerrissen hätte und bis heute schwärende Wunde geschlagen hat.

Sabine Gruber verarbeitet in diesem Roman jede Menge historischen Stoffes, was gelegentlich dazu führt, dass man sich - trotz des Glossars im Anhang - als Nicht-Italiener ein wenig erschlagen fühlt von all den sich verwirrenden, komplex verwobenen Vergangenheiten. Gleichzeitig wird dadurch aber umso eindringlicher deutlich, dass man dem, was war, nicht entkommt. "Wann würde der Tag kommen, an dem die Erinnerungen sie nicht mehr berührten? Wann der Tag, der nicht einmal mehr die Erinnerungen brachte?" Auf diese Frage Claras gibt dieser Roman eine eindeutige Antwort: Dieser Tag wird niemals kommen. Das "Glück", vergessen zu können, ist keinem der Protagonisten gegeben. Ebenso wenig wie das Glück des Geborgenseins. Wie schon in allen bisherigen Romanen Grubers sind die Menschen "Aushäusige", Heimatlose, Entfremdete, Vereinzelte. Alle sehnen sich nach Liebe, und die zarten Annäherungen, die Sabine Gruber hier geschehen lässt - zwischen der schon etwas älteren Emma Manente und einem Stammgast aus Tirol, zwischen Clara und Paul -, sind so anrührend geschildert, dass man "Stillbach" auch als großen, von Traurigkeit grundierten Sehnsuchts- und Liebesroman lesen kann.

"Ersetzt das Wolkengewebe jenes Sinngewebe, das auf der Erde zerrissen ist?", fragt Clara am Ende des Romans beim Blick in den Himmel über Rom. Nein, "Sinn" ergibt allein dieser grandios komponierte Roman. Er verwebt die verschiedenen Zeiten, Orte und Biografien so kunstvoll miteinander, er schafft ein so fein gesponnenes Netz aus Leitmotiven, Bildern und Symbolen, dass sich daraus eine ganz eigene, viel tiefere Wahrheit ergibt: nicht die historische, sondern die literarische; nicht die Wahrheit der Fakten, sondern die der Fiktion.

Sabine Gruber: Stillbach oder Die Sehnsucht Roman. C. H. Beck, München 2011, 379 Seiten, 20,60 Euro.