
Begonnen hat alles mit einem Franzosen, der seine Reiseromane mit dem Siegel des Besonderen versehen wollte. Und so reiste man mit Jules Verne "20.000 Meilen unter den Meeren" und "Von der Erde zum Mond". 1895 schickte dann der Engländer Herbert George Wells einen namenlosen Reisenden mittels Zeitmaschine in die Zukunft und definierte das Genre der Science-Fiction: Entwürfe des Möglichen, in denen Einzelpersonen, Gesellschaft und Umwelt in Konstellationen betrachtet werden, die sich von den realen Gegebenheiten unterscheiden. Zumeist reichern die Autoren diese Erzählungen mit Errungenschaften an, in denen vorhandene Technik weitergedacht wird.
In einigen slawischen Nationen hat diese Literaturgattung während der Zeit der kommunistischen Diktatur eine Hochblüte: Man kann die Kritik an der Realität tarnen als Kritik an einer rein fiktiven Gesellschaft. Die geistige Herausforderung, sich mit einer real bestehenden täglichen Bedrohung auseinanderzusetzen, führt zu einer philosophisch angehauchten Science-Fiction, deren Hauptvertreter das russische Autoren-Duo Arkadi und Boris Strugazki und der Pole Stanislaw Lem sind. Es mag bezeichnend sein, dass es ein russischer Regisseur, nämlich Andrei Tarkowski, war, der Lems "Solaris" verfilmte. Im Vestibül des Wiener Burgtheaters wird ab Freitag eine dramatisierte Version des Romans gezeigt.
Angepasste Autoren
Genau genommen hat die Beschreibung einer alternativen Gesellschaft als Kritik an herrschenden Zuständen in der russischen Literatur eine gewisse Tradition. Michail Saltykow-Schtschedrins "Geschichte einer Stadt" (1869) etwa ist ein Paradebeispiel eines solchen Gedankenspiels.
Alexei Nikolajewitsch Graf Tolstoi (1883-1945) wiederum hat im Ausland ein paar Pamphlete gegen die Kommunisten geschrieben. Dennoch zieht es ihn, der sich bis dahin als Autor neorealistischer Erzählungen einen Namen gemacht hat, nach Russland zurück. 1923 kehrt er heim und signalisiert den kommunistischen Machthabern gleichsam ein Stillhalte-Abkommen, indem er zwei Science-Fiction-Romane schreibt: "Aëlita" und "Geheimnisvolle Strahlen". In "Aëlita" (1923) entdecken sowjetische Raumfahrer eine technisch fortschrittliche Mars-Zivilisation, die gesellschaftspolitisch allerdings rein kapitalistisch und im Untergehen ist. In "Tödliche Strahlen" (1926) versucht deren Erfinder Garin, die Welt mittels überlegenen Waffen, eben jener Art Laser, seiner Diktatur zu unterwerfen.
Während man "Tödliche Strahlen" als Kritik an jeglicher Waffengewalt lesen kann, stellt Iwan Antonowitsch Jefremow (1908- 1972), Paläontologe und Begründer der Taphonomie (Lehre von der Entstehung von Fossilien), seine schriftstellerische Arbeit unkritisch in den Dienst des Kommunismus, der in "Andromedanebel" (1957) die Erde in ein Paradies verwandelt hat. 20 Millionen Mal wird das Buch in der Sowjetunion verkauft, was diesen Roman zu einem der erfolgreichsten seines Genres macht.
Strugazkis in Distanz
Wesentlich subtiler gehen die Brüder Arkadi (1925-1991) und Boris Strugazki (1933 geboren) vor. Mit ihrer makellosen Prosa und dem brillanten Spiel mit unterschiedlichen Erzähltechniken übertreffen sie stilistisch die meisten anderen Genre-Autoren. Die in ihren Büchern beschriebenen Gesellschaftssysteme sind oft geschickt getarnte Allegorien auf den Kommunismus. Immer wieder sieht sich ein Individuum mit der Bürokratie als Auswuchs einer totalitären Macht konfrontiert. Dann wieder untersuchen die Brüder Strugazki den Einfluss einer höheren Zivilisation auf eine weniger hoch entwickelte - religiöse Implikationen inklusive.
Eine Sonderstellung nimmt der Roman "Picknick am Wegesrand" (1971) der Brüder Strugazki ein, den Andrei Tarkowski als "Stalker" verfilmte. Die Geschichte handelt von abgesperrten Zonen, in denen Merkwürdiges geschieht. Die "Stalker", etwa "Schatzsucher", betreten die Zonen unerlaubt und sammeln dort Artefakte. Der Stalker Roderik Schuchart sucht in einer Zone nach einer goldenen Kugel, die alle Wünsche erfüllt. Sucharts Auseinandersetzung mit Realität und Wunsch führt zu einer Selbstentfremdung, die es ihm unmöglich macht, nachdem er die Kugel gefunden hat, einen individuellen Wunsch zu formulieren.
Der polnische Autor Stanislaw Lem (1921-2006) zeigt sich von der Erzählung tief beeindruckt und interpretiert sie als "Ausgangsbedingung für ein Gedankenexperiment der experimentellen Geschichtsforschung".
Lem selbst setzt sich bereits 1961 in "Solaris" mit Selbsterkenntnis im Spannungsfeld zum Wunschdenken auseinander. Wie die Brüder Strugazki, ist auch Lem ein überragender Stilist. Auch er verpackt in Romane, die vorgeblich zum Science-Fiction-Genre gehören, philosophische Fragestellungen. Und wie die Brüder Strugazki, so schreibt auch Lem Allegorien über real bestehende Gesellschaftsformen, ohne den Kommunismus auszusparen.
Philosoph der Technik
In einem Punkt geht Lem dabei weiter als die Brüder Strugazki: Während sich diese auf menschliche und gesellschaftspolitische Probleme konzentrieren, entwickelt Lem, der auch philosophische Abhandlungen verfasste, in seinen Romanen Fragestellungen an der Grenze von Technik und Philosophie. So reflektiert er über die Intelligenz von Maschinen und kritisiert den Glauben an den unbedingten technischen Fortschritt, der vor allem in den Ländern des Warschauer Pakts als unumstößliche Doktrin galt.