
Die Türkei wird gedrängt, endlich den Völkermord an den Armeniern als Teil ihrer Geschichte zu erkennen. Doch auch die unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erfolgte Entrechtung und Vertreibung von mehr als zehn Millionen Deutschen aus Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn und einigen südosteuropäischen Ländern ist zwar ein politisch weitgehend ruhiggestelltes Kapitel, aber alles andere als aufgearbeitet. Der tschechische Präsident Václav Klaus nahm 2009 die 26 EU-Partnerstaaten sogar als Geiseln, indem er die Unterzeichnung des Lissabon-Vertrags verweigerte, solange sie nicht ein "Ausnahme"-Protokoll unterzeichneten, das die Gültigkeit der Benes-Dekrete des Jahres 1945 über Ausbürgerung, Enteignung und Vertreibung verewigte.
Doppelbödige Politik
Die EU-Gemeinschaft beugte sich dem menschenrechtsfeindlichen Diktat. Die doppelbödige Politik, die 1943 einsetzte und ab 1945 viele Millionen Menschen entrechtete und einige Hunderttausende das Leben kostete, hat ihre Fernwirkung bis heute.
Der an der Colgate University in Hamilton, New York, lehrende Historiker R. M. Douglas sieht in dem Ereignis "nicht nur die größte Deportation, sondern vermutlich auch die größte Bevölkerungsbewegung der Weltgeschichte". Douglas ist irischer Herkunft. Seine wissenschaftliche Analyse der Vertreibung bildet einen Markstein.
Die Vertreibungspläne reiften ab 1943 unter Exilpolitikern in London, Galionsfigur war der tschechische Expräsident Edvard Benes. Die alliierten Mächte waren klug genug, die Entrechtung der in Polen und der Tschechoslowakei geborenen und vielleicht seit Generationen dort siedelnden Deutschen nicht offiziell zu ihrer Sache zu machen, aber auch diplomatisch beziehungsweise feig genug, um dem sich aufbauenden Horror freien Lauf zu lassen.
Weder die künftigen Siegermächte noch die Vertreiberländer hatten irgendeinen logistischen Plan, wie im kriegszerstörten Europa Millionen Menschen übersiedelt werden könnten. Kaum war der Krieg zu Ende, brachen die "wilden Vertreibungen" in Polen und der Tschechoslowakei los. Eigentum wechselte über Nacht die Besitzer, die Enteigneten wurden in vollgepferchten Viehwaggons ins besetze Deutschland (und aus Jugoslawien und Ungarn nach Österreich) geschickt. Züge waren tagelang unterwegs, wurden auch zurückgeschickt, und wenn es endlich irgendwo eine "Ankunft" gab, dann kamen immer auch Tote an, manchmal bis zu hundert.
War die Rache der Polen und Tschechen an Adolf Hitlers Eroberungswahn ein Argument für den Ausbruch des Hasses gegen alle Deutschstämmigen, so wurde dieses rasch von einem anderen Moment überlagert: Ein "Rausch der Besitzgier" setzte ein, gelenkt und getragen von staatlichen Institutionen wie Polizei, Regionalbehörden und Armeeangehörigen.
Konsequenz: nie wieder
Auf die "wilden" Vertreibungen folgten die "organisierten", bei denen die Besatzungsmächte durch ein "Combined Repatriation Executive CRX" minimale Ordnung herzustellen versuchten, wenn auch vergeblich. Die Autorität der Siegermächte versank im Chaos unkontrollierter Massenbewegungen und suchte ab Mitte 1946 einen Ausstieg aus dem Exzess. Was mit Millionen gewaltsam ins zerbombte Ost- und Westdeutschland getriebenen Deutschen - mehrheitlich Frauen und Kindern - geschehen sollte, reduzierte sich auf die Formel "Die Deutschen sollen es machen".
Douglas kommt zum Schluss: Die Erfahrungen mit dieser Umsiedlung großer Bevölkerungsteile erlaube für alle Beteiligten einschließlich der Vertreiberländer als der angeblichen "Gewinner" eigentlich nur eine Konsequenz: nie wieder.