Henri Thomas verbringt sein Leben damit, zu schreiben. Beinahe sechzig Jahre lang verfasst er Romane, Gedichtbände, Essays, Aufsätze und Übersetzungen. Zeitgenossen wie Philippe Jaccottet und André Gide bewundern ihn, die Nachwelt beginnt jedoch erst allmählich, die Besonderheit seines Werks zu entdecken. Heuer jährt sich sein Geburtstag zum hundertsten Mal, pünktlich dazu ist die kongeniale deutsche Übersetzung Leopold Federmairs von "Le parjure" (Der Meineid) erschienen.
Henri Thomas wird am 7. Dezember 1912 in Anglemont, einem kleinen Dorf in den Vogesen, als Sohn eines Bauern und einer Volksschullehrerin geboren. Mit sechs Jahren verliert Thomas seinen Vater. Dieser Schock sitzt so tief, dass er noch Jahre später in seinen Werken nachklingt - so auch in "Der Meineid". Bereits in seiner Kindheit ist Henri Thomas der Lust des Schreibens verfallen. Einen Zettel in der Hand, notiert der Siebenjährige alles, was ihm in seinem jungen Leben widerfährt, und betitelt diese Aufzeichnungen mit "Mes Mémoires" ("Meine Memoiren").
Nach der Volksschule sind die Jahre am Lycée in Saint-Dié eine Qual für den Jungen. Die Professoren sprechen ausschließlich Deutsch, was Thomas große Schwierigkeiten bereitet, wenn ihm dadurch auch der unmittelbare Zugang zur deutschen Sprache eröffnet wird. Der verzweifelte Bub wendet sich an André Gide, der ihn ermutigt und ihm auch später in Paris (finanziell) unter die Arme greift. Andererseits jedoch entdeckt er hier die Gedichte Arthur Rimbauds und damit seine Liebe zur Poesie.
Sprachskepsis
1940 wird der Roman "Le Seau à charbon" bei Gallimard veröffentlicht. (Thomas muss ihn zwei Mal schreiben, weil er die erste Fassung verloren hat.) Der erste Gedichtband folgt 1941, ebenfalls bei Gallimard. In diesem Jahr lernt er Colette Gibert, seine erste Frau, kennen, die jedoch schwere psychische Probleme hat und Schritt für Schritt in den Wahnsinn entgleitet.
Nachdem Thomas im Zweiten Weltkrieg kurz eingerückt war, kehrt er nach Paris zurück, wo er die Jahre der Besatzung verbringt. Die Eindrücke dieser Zeit fließen in seinen zweiten Roman "Le précepteur" (1942) ein. In diesem Werk gibt es keine einfachen Entscheidungen, zwischenmenschliche Beziehungen erweisen sich als kompliziert - die Hauptfigur, ein Außenseiter, kann sich nur mühevoll mitteilen.
Die Sprachskepsis dieser Zeit ist bei Thomas deutlich spürbar: "Ich brannte darauf, zu sprechen", erklärt der Hauptakteur des Romans, als er sich im Hotelzimmer einer unbekannten Frau wiederfindet,in der er sofort seine große Liebe erkennt. Nach langem Schweigen sagt er schließlich nur das Essenzielle: "Ich bin glücklich neben Ihnen". Der Autor erklärt, warum: "Sprache ist dazu da, zwischen zwei Menschen plötzlich eine innigere, gleichsam glühendere Beziehung zu etablieren." Nichtige Dinge bleiben ungesagt.
Die Sprachenproblematik wird weitergeführt und am Ende des Romans hat die Figur die Fähigkeit zu schreiben verloren. Die Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau bleibt unerfüllt, Einsamkeit stellt sich wieder ein. Einsamkeit, "la Solitude", ist ein Thema, das die Werke von Thomas durchdringt, von ihm selbst jedoch nicht negativ gesehen wird.
"Ich habe niemals so sehr an andere gedacht wie in jenen Momenten, in denen ich alleine war. Kann man das also Einsamkeit nennen?" Die Antwort auf diese Frage heißt "nein". Wenn man auch alleine sein müsse, um zu dichten oder sich mit anderen persönlichen Dingen zu beschäftigen, meint Thomas, so sei das nicht Einsamkeit: "Es gibt keine wirkliche Einsamkeit. Man könnte sie gar nicht ertragen. Ist man alleine, wird man zuerst von seinem Doppelgänger verfolgt - wodurch man nicht alleine ist -, und anschließend vom Horizont aller anderen." Die einzig wahre Einsamkeit, die unerträgliche, ist in Thomas Augen jene des Wahnsinns.
Liebesakt der Sprache
Das Wort an sich, so Thomas, sei entwertet worden, wie so vieles andere. Da es die Aufgabe der Dichter sei, die Worte wieder in ihr Recht zu setzen, kämpft Thomas gegen die Entwertung der Sprache an. Seine Romane zeichnen sich durch eine einfache, unaffektierte und poetische Sprache aus. Thomas beschreibt die Poesie als Liebesakt: "Es ist zuerst ein Liebesakt der Sprache. Auch für einen selbst, weil man in der poetischen Sprache glücklich ist."
Das lebensabgewandte Gehabe der rein experimentellen Literatur, die in der Nachkriegszeit die Szene beherrscht, ist Thomas fremd. "Ich war entsetzt über das, was ich las, über die Anstrengungen von Leuten wie Claude Simon zum Beispiel, ich bedaure das sagen zu müssen. Ich denke an die Schule des Nouveau Roman (. . .) Die gemeine Sprache (frz. la langue commune) zu massakrieren ist für mich ein Verbrechen. Das ist, als würde man Telefonkabel abtrennen und die Kommunikation verhindern. (. . .) Ich bin vielleicht etwas streng, aber (. . .) ich liebe die Musik, die sich hinter Worten versteckt."