Das sprechende Ich berichtet vom steifen Glied in der Unterhose der Schwester und seinen blasphemischen Transformationen in die Gestalt des Heilands, der gleich Jesu eine Totenerweckung versucht, nur dass es im Fall des Bauernbuben ein totes Küken ist, das er ins Bett mitgenommen hat. Geheime Schändungen der Hostien durch den Erzministranten gehören ebenso zum Repertoire der Auflehnung wie das Verlangen, mit der lächelnden Totenmaske der Else Lasker Schüler vor dem Gesicht durch die nächtliche Stadt zu wandern.

Der "böse Blick"

Winklers Vorhölle: das katholische Kamering (Kruzifix in der Pfarrkirche). - © Foto: Wikimedia
Winklers Vorhölle: das katholische Kamering (Kruzifix in der Pfarrkirche). - © Foto: Wikimedia

W.G. Sebald hat einmal im Zusammenhang mit den Texten sogenannter Provinzschriftsteller vom "bösen Blick" gesprochen, den diese auf ihre Herkunft werfen. Auf Winkler trifft diese Charakterisierung uneingeschränkt zu, nicht zuletzt weil er nie damit aufgehört hat, to look back in anger.

"Mutter und der Bleistift" ist ein bezeichnendes Beispiel dafür, dass sich der Blick weiterhin wie unter Zwang zurückrichtet aufs Heimatdorf. Kamering ist heutzutage zweifelsohne längst ans Internet und andere vermeintliche Segnungen der Moderne angeschlossen, in den Texten Winklers jedoch firmiert es unverändert als "das kreuzförmig erbaute Dorf", dem die Dumpfheit des Katholizismus gleichsam architektonisch eingeschrieben ist - die brutale Welt einer Kindheit und Jugend, in der das erzählende Ich seine prägenden Verletzungen erlebte.

Was sich freilich in den letzten Jahrzehnten bei jedem Buch von Winkler geändert hat, das ist die Perspektive des bösen Blicks. Und der Ton, der bei aller Unversöhnlichkeit etwas konzilianter geworden ist. Auf das "Requiem" auf Winklers Vater in "Roppongi" (2007) folgt nun der literarische Nachruf auf die kürzlich verstorbene Mutter. An verschiedenen Orten der Welt geht Winkler dabei jeweils von Lektüreerfahrungen österreichischer Schriftstellerkollegen aus - im indischen Ellora sind es Sätze aus Ilse Aichingers "Kleist, Moose, Fasanen", während in Kiew oder Südfrankreich Notate aus den Journalen von Peter Handke die Erinnerungen an Vorkommnisse aus der Dorfgeschichte, Episoden aus dem Familienleben oder kindliche Traumata wachrufen.

Für die "schöne" Hand


Der Tod erweist sich dabei als unveränderlicher Fixpunkt der Erinnerungswelt, bricht er doch nicht selten allzu früh mit erschreckender Macht ein ins Leben: Heranwachsende erhängen sich gemeinsam im Heustadl, während jugendliche Soldaten im Krieg fallen oder sechsjährige Buben in einem Augenblick der Unachtsamkeit ihren Tod im Straßenverkehr finden.

Andererseits erreichen die Kameringer Bauern nicht selten ein biblisches Alter, wie etwa der Vater Winklers, der als 99-Jähriger verstarb. Das Hauptaugenmerk diesmal gilt aber der Mutter, die immerhin 86 Jahre wurde. Der Erzähler berichtet von Erlebnissen mit ihr, wie beispielsweise ihrer Bitte, Weihwasser aus der Kirche zu holen, oder ihre Ermahnungen an den Linkshänder, den Bleistift in die rechte, also "die schöne" Hand zu nehmen.

Ebenso erfährt man verletzende Episoden aus ihrer Kindheit und Jugend. So berichtete man der 18-Jährigen vom Tod ihres Bruders im Krieg mit den Worten: "Mitzele! Der Adam kommt auch heim, aber anders!" Dieser nämlich wurde von einer Mine zerrissen, sodass man ihn in Einzelteilen beerdigen musste. Dem grausigen Bild des zerstückelten Soldatenkörpers einher gehen die Beschreibungen der Leichen alter Frauen, um die der Text gebetsmühlenartig kreist - der Tod hat alle und alles im Griff. Und dies für immer und in Ewigkeit.

Winklers Textmaschine wird daher auch bis auf Weiteres nicht zum Erliegen kommen. Denn die einzige Antwort auf den Tod kann nur das wütende Anschreiben dagegen sein.