"In meiner Kindheit habe ich sorgsam darauf geachtet, Schritt für Schritt in die Mitte der Muster zu setzen." Es gab sie, wie wir wissen, überall, man musste bloß die Augen offen halten: Steinfließen, Gehsteigplatten, Kopfsteinpflaster, Oberflächen mit Mustern und Rissen aller Art. "Nur nicht auf die Zwischenräume treten." In einem kurzen Comic-"Essay" mit dem Titel "So tun als ob" (2008) reflektiert Ulli Lust das spielerische Wesen Mensch - und unscheinbare Verhaltensweisen, in denen sich dieses Wesen äußert.
Als ob die Zeichnerin Lust ihre einstige Strategie der Wahrnehmung und der Begehung der Welt lediglich in ein anderes Spiel verwandelt hätte: Die Muster sind nun Bildkästchen eines Comics, sogenannte Panels, zwischen denen die sogenannten Rinnsale (Zwischenräume) ihre ganze Magie entfalten können.
Jugendliche Eskapade
"Hast du ein paar Schillinge für mich?" Mitte der 1980er Jahre schnorrt ein 17-jähriges Punk-Mädchen am Wiener Schwedenplatz Passanten an. Ein älterer Sandler-Freund mit Hund rettet sie und ihre Freundin wenig später vor einem Neonaziübergriff: "Wieso machst du nicht was Gescheites?", fragt er: "Du bist jung, bist nicht dumm, wenn du was anderes anziehst, siehst du sicher gut aus." - "Was Gescheites mache ich gerade. Ich machte nämlich nicht mit! Ich bin ausgestiegen aus der Scheißgesellschaft!" - "Mädel, ihr seid bloß in die scheiß unterste Etage abgestiegen!"
Als 2009 im Berliner Avant-Verlag der autobiografische Comicroman "Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens" erschien, katapultierte er die - später mit renommierten Preisen ausgezeichnete - Comicautorin in die vorderste Riege der deutschsprachigen Comiczeichner. Auf 460 Seiten beschreibt Lust, Panel für Panel, schonungslos dokumentarisch die Lehr- und Wanderjahre der jugendlichen Ulli, die zusammen mit einer Punk-Freundin ausbüxt und ohne Pass und Geld nach Italien fährt, um im wärmeren Nachbarland zu "überwintern". Was als abenteuerlicher Ausstieg geradezu harmlos beginnt, gerät in Rom und Palermo zu einem halsbrecherischen Unterfangen voll existenzieller und physischer Bedrohungen.
Der Wahlberlinerin Lust gelang damit die Umsetzung einer schauerlichen Jugendeskapade in einen atemberaubend erzählten Comic, der die Erlebnis-Neugier von Jugendlichen ebenso darstellt wie Angst und Ohnmacht. Überzeugend ist auch die Perspektive der Autorin, die den Blick der Jugendlichen weder romantisiert noch aus distanzierter Überheblichkeit verrät. Die Zeichnerin hat einen eigenen, dokumentarisch geschulten Strich gefunden, um ihre Erfahrungen, Beobachtungen und Erinnerungen bildstark zu erzählen.
Lange zuvor hatte die Österreicherin Ulli Schneider in Wien eine Lehre als Design- und Modezeichnerin abgebrochen und einige Zeit als Kinderbuchillustratorin gearbeitet. Erst Ende der 1990er Jahre begann sie an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee ein Graphikdesign-Studium. Inzwischen erschienen, nunmehr unter dem Namen ihrer Mutter, Lust, ihre ersten Arbeiten in Comiczeitschriften. 2001 gründete sie mit Kollegen die Zeichnergruppe "Monogatari" (auf Japanisch etwa: "Geschichten erzählen").
Beobachtung wird eine zentrale Kategorie in Lusts Annäherungen an ihre Umwelt: "Je länger man hinsieht, desto vielfältiger fächert sich die Realität." Einige Comicreportagen der Folgejahre sind im Band "Fashionvictims, Trendverächter. Bildkolumnen und Minireportagen aus Berlin" (2008) versammelt. Andere, etwa ihre erotische Serie "springpoem", ist unter "electrocomics.de" nachzulesen: Lusts 2005 gegründeter Online-Verlag publiziert E-Books und Comicstrips von internationalen Zeichnern.
Nun hat Lust eine Comicadaption von Marcel Beyers Roman "Flughunde" (1996) angefertigt, der die Perspektiven eines Akustikers und Stimmenforschers mit jener der 12-jährigen Tochter Goebbels verschränkt, um ein vielschichtig-bizarres Licht auf die Innenwelt der Nazizeit im Endstadium ihrer tobenden Epiphanie zu werfen. "Flughunde" ist das dritte Buch der Graphic-Novel-Reihe, die der Suhrkamp Verlag 2011 mit Nicolas Mahlers Adaptation von Thomas Bernhards "Alte Meister" eröffnete.
Wie kam die Autorin auf Bey- ers Roman? Ausschlaggebend waren zwei Kriterien, so die Zeichnerin: "Die Handlung sollte in Berlin oder Österreich spielen und es sollte eine weibliche Hauptfigur geben." Tatsächlich weisen die inneren Monologe der beiden Hauptfiguren formal überraschende Ähnlichkeiten mit dem Blickwinkel von Lusts autobiografischem Comic auf, dessen Herzstück die präzise Beschreibung subjektiver Erlebnisse und Wahrnehmungen darstellt. Auch was die spezifische Perspektive der Helga Goebbels angeht, konnte die Autorin an Vertrautes anknüpfen: 2003 hatte sie "Schulaufsätze von Berliner Kindern über das Jahr 1945" adaptiert.
Schließlich hat Ulli Lust aus Beyers fein gefügtem Roman eine ästhetisch beeindruckende, zeichnerische Inszenierung geschaffen, die sich einerseits an die kunstvolle Struktur der Vorlage anschmiegt und andererseits mit subtilen comicspezifischen Mitteln ein singuläres Geflecht an Beziehungen auf der Text-Bild-Ebene erzeugt.