Text als Steinbruch

Lust behält den Originaltext passagenweise unverändert bei, ganz ohne Umschichtung und Kürzung kommt der 360 Seiten starke Comic aber nicht aus. Auch sind Eingriffe in den Text zu bemerken, die man bereits als Montage bezeichnen kann. Ebenso wie bei einer Verfilmung muss die Autorin bei einer Comicadaption Regie führen und die grundlegende Entscheidung treffen, wie der Transfer, die Umsetzung und Übersetzung in das neue Medium vonstattengehen soll. "Ich habe mich darauf konzentriert, den Text als Materialsammlung zu betrachten, als Steinbruch, aus dem ich herausschlage, was mir interessant erscheint, und mir außerdem die Freiheit genommen, Neues zu erfinden, wenn es mir schlüssiger vorkam."

Geräuschepartitur

Zentral für den Roman ist die abgründige Ambivalenz der beiden Protagonisten. Der Akustiker Hermann Karnau, in privaten Forschungen "dem Geheimnis der Stimme" auf der Spur, ist beruflich für die Optimierung von Beschallungsanlagen bei Goebbels-Reden zuständig. Als Bekannter des Hauses freundet er sich mit den Kindern des Reichspropagandaministers und engsten Vertrauten des Führers an.

Sie sind gefangen in einer rosa Gegenwelt zu der vom Krieg gezeichneten Außenwelt. Helga ist die Älteste der sechs Geschwister. Die Ritzen und Risse in ihrem privaten Reich nähren ein Misstrauen, das sie die Lüge in nächster Nähe und im Innersten des Systems erkennen lässt: "[I]ch rieche das an seiner Stimme (wenn Papa lügt), selbst wenn er noch so viele Pastillen lutscht gegen diesen verräterischen Atem." Karnau, dem Stimmensammler, haftet etwas von der Unbestechlichkeit eines Canetti’schen Ohrenzeugen an: wohl registriert er den Missklang "der Herrenstimmen", doch lässt er sich dazu benutzen, einen Stimmenraub in Form grauenvollster Experimente an lebenden Menschen durchzuführen.

Beyers Prinzip der Engführung von Ausdrücken und Wortfetzen, die alle nicht mehr stimmen, wird bei Lust mit den Mitteln des Comics weitergeführt: "Es muss wie ein Strom durch das deutsche Volk gehen!" Goebbels Satz aus seiner berüchtigten "Sportpalastrede" (1943) wird mit den Elektroschocks in Karnaus Folterexperimenten kurzgeschlossen. Der "Totale Krieg" erscheint in seiner zugespitzten Form als totaler Angriff auf den wehrlosen Körper. Im Gedränge der Bilder, wenn es einem die Stimme verschlägt, entfallen bei Lust die Zwischenräume: Ineinander geschichtet folgen die Panels aufeinander, nur durch einen Strich voneinander getrennt.

Die Zeichnerin Lust hat "ein Jahr imaginär im Führerbunker verbracht". Während Karnau hier letzte Stimmaufnahmen ("Der Führer hustet") durchführt, bereiten Herr und Frau Goebbels den Mord an ihren Kindern vor, ehe sie selbst Suizid begehen. Erst viel später, Anfang der 1990er Jahre, wird Karnau Plattenaufzeichnungen mit den Kinderstimmen aus deren letzten Lebenstagen wiederfinden. Noch einmal erinnert die Idee der Stimmenrettung an ihre grausame Verkehrung ins Gegenteil.

Der Bunker, beklemmend und zugleich surreal, gibt in Beyers Roman keine Laute von sich. Lust nimmt die historisch belegten Geräusche auf: ein stetes Rattern und Surren, das mit den Erschütterungen durch die Bombardierungen anschwillt. Lusts grafische Geräuschepartitur mit all ihren Crescendi nimmt sich aus wie ein Ravel’scher Boléro der Endzeit.

Martin Reiterer, geboren 1966, Germanist und Kulturpublizist; lebt in Wien und befasst sich speziell mit dem Genre der Comics.