Die Krise, die im Jahr 1914 mit den Todesschüssen von Sarajewo zum Ersten Weltkrieg führte, war die Frucht einer gemeinsamen politischen Kultur. Sie war darüber hinaus multipolar und wahrhaft interaktiv. Genau das macht sie zum komplexesten Ereignis der Moderne. Deshalb geht die Diskussion um den Ursprung dieses Konflikts, der in jenem Sommer begann, 65 Millionen Soldaten mobilisierte, drei Reiche zu Fall brachte und 20 Millionen militärische und zivile Todesopfer forderte, weiter.

Der australisch-britische Historiker Christopher Clark legt mit seinem ausgezeichneten Buch über die hochkomplexe Vorgeschichte hin zur Katastrophe des Ersten Weltkrieges, aus dem die Gräuel des 20. Jahrhunderts in Europa hervorgingen, eine bahnbrechende Untersuchung vor. Er widerlegt die These, das deutsche Kaiserreich habe die Hauptverantwortung am Kriegsausbruch getragen. Nicht nur Deutschland hatte damals imperialistische Ziele, betont er. Der Kriegsausbruch war eine Tragödie, kein Verbrechen.

Minutiös durchleuchtet er das Geflecht unterschiedlicher nationaler Interessen und Motive der wichtigsten Entscheidungsträger in den europäischen Hauptstädten und weist dabei auf eine psychologisch hochbrisante Gemengelage hin, in der gegenseitiges Misstrauen, Fehleinschätzungen auf vielen Seiten, Überheblichkeiten und Expansionspläne dominierten. Sie führten am Ende zu einer derartigen Ereignisdichte, in der die Hoffnung auf einen kurzen Feldzug aller Beteiligten und die Angst vor einem langen sich gegenseitig aufhoben. Das vernebelte die klare Sicht auf die durchaus abwendbare Drift in Richtung Katastrophe.

Einzelnes Ereignis kann Politik in Zugzwang bringen

Die Marginalisierung der serbischen und damit der breiteren Balkandimension der Geschichte setzte schon während der Julikrise 1914 ein. Diese begann als Antwort auf die Morde in Sarajewo am österreichisch-ungarischen Thronfolgerehepaar durch die Tat von Gavrilo Princip, Mitglied einer serbisch-nationalistischen exterritorialen Terrororganisation. Aber später trat eine andere geopolitische Phase ein, in der Serbien und seine Aktionen eine untergeordnete Rolle spielten.

Die Anschläge auf das World Trade Center vom 11. September 2001 haben deutlich vor Augen geführt, wie ein einziges, symbolträchtiges Ereignis die Politik unwiderruflich in Zugzwang bringen kann. Es müssen die Kräfte verstanden werden, die in den serbischen Politikern, Offizieren und Aktivisten von und vor 1914 wirkten, schreibt Clark.

Der Ausbruch des Krieges war der Höhepunkt in einer Kette von Entscheidungen, die von politischen Akteuren mit bewussten Zielen getroffen wurden. Diese Akteure waren bis zu einem gewissen Grad der Selbstreflexion fähig, sie erkannten eine Auswahl von Optionen und bildeten sich auf der Basis der besten Informationen, die ihnen vorlagen, ein Urteil. Nationalismus, Rüstung, Bündnisse und Hochfinanz waren allesamt Teil der Geschichte in diesem spannungsgeladenen Konglomerat unterschiedlicher Interessen.

Die heutige Finanzkrise in der Eurozone ist für Clark ebenso von atemberaubender Komplexität wie - trotz aller Unterschiede - jene Krise von 1914. Die wesentlichen politischen Akteure in der Eurokrise waren und sind sich bewusst, dass ein Scheitern des Euro katastrophale Folgen haben könnte. Das war 1914 nicht so. Die Protagonisten von damals bezeichnet Clark deshalb mit Recht als "Schlafwandler" - wachsam, aber blind, von Alpträumen geplagt, aber unfähig, die katastrophalen Folgen dieses Krieges wirklich zu erkennen, den sie schließlich vom Zaun brechen sollten.